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Krankenkassenobligatorium gilt auch für abgewiesene Asylsuchende

07.07.2011

Alle Nothilfeberechtigten sollen künftig obligatorisch krankenversichert werden. Dies hat der Bundesrat am 6. Juli 2011 entschieden und einer Revision der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) zugestimmt. Damit reagiert die Regierung auf eine Forderung aus der Zivilgesellschaft, die seit Jahren im Raum steht. Denn seit Einführung des Nothilfesystems für abgewiesene Asylsuchende und Asylsuchende mit Nichteintretensentscheid (NEE) im Jahre 2008 weisen NGOs darauf hin, dass diese Menschen nicht aus der Grundversicherung entlassen werden dürfen, weil ansonsten ihr Recht auf Gesundheit unverhältnismässig stark eingeschränkt wird.

Ab dem 1. August 2011 hält Art. 92d der KVV fest, dass alle Nothilfeberechtigten obligatorisch krankenversichert werden. Abgewiesene Asylsuchende und Asylsuchende mit einem rechtskräftigen Nichteintretensentscheid (NEE) bleiben somit bis zu ihrer Ausreise aus der Schweiz der obligatorischen Krankenversicherung unterstellt.

5800 Betroffene

Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) begrüsst in einer ersten Reaktion diese Änderungen und hofft gleichzeitig, «dass die längst fällige Praxisänderung auf kantonaler Ebene auch wirklich erfolgen wird». Die SBAA weist darauf hin, dass 5800 Personen unter den prekären Bedingungen der Nothilfe leben. In der heutigen Praxis existierten beim Vollzug der Nothilfe grosse Unterschiede zwischen den Kantonen – auch in Bezug auf die gewährleistete medizinische Grundversorgung. Einige der Nothilfeberechtigten sind demnach krankenversichert, andere nur zum Teil. Dies obwohl NGOs und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bereits 2008 darauf hingewiesen hatten, dass das Krankenkassenobligatorium auch für abgewiesene Asylsuchende und Asylsuchende mit NEE gelte.

Dokumentation

Trotz frühem Druck keine Praxisänderung in den Kantonen 

Seit Anfang 2008 erhalten abgewiesene Asylsuchende von den Kantonen nur noch Nothilfe. Dies ist eine Massnahme, welche auf das neue Asylgesetz zurückzuführen ist und zur Kostenminimierung im Asylwesen beitragen soll. Einige Kantone gingen aber noch weiter und schlossen die abgewiesenen Asylsuchenden von der Krankenversicherung aus. Sie gewähren den Betroffenen im Rahmen der Nothilfe den Zugang zum Gesundheitswesen nur noch bei einem Notfall. Anders und doch ähnlich liegt der Fall bei Asylsuchenden mit einem NEE: Diese erhalten seit 2004 nur noch Nothilfe und auch ihnen haben gewisse Kantone seither nur noch bei Notfällen einen Arztbesuch ermöglicht.

Der Ausschluss aus der Krankenkasse erfolge widerrechtlich, argumentierte die IGA SOS Racisme bereits im März 2008, denn das Krankenversicherungsgesetz sehe ein Obligatorium für alle Personen, die in der Schweiz leben vor. Das Krankenversicherungsgesetz gehe von der Gleichbehandlung aller Versicherten aus. Der Abschluss einer Krankenversicherung sei also auch für abgewiesene Asylsuchende und Asylsuchende mit NEE obligatorisch, der Zugang zur Gesundheitsversorgung müsste ihnen eigentlich gewährt werden. 

Ausschluss ist Praxis in mindestens fünf Kantonen

Betroffen vom Ausschluss seien Tausende Menschen, sagte Françoise Kopf von IGA SOS Racisme 2008. Asylsuchende, deren Gesuch rechtskräftig abgelehnt worden oder auf deren Gesuch nicht eingetreten worden sei (NEE), erhielten nur noch medizinische Nothilfe. Kopf kann belegen, dass die Kantone Solothurn, Zürich, Waadt, Bern und Graubünden abgewiesene Asylsuchende bei der obligatorischen Krankenkasse abmeldeten. In Rundschreiben hatten diese Kantone den Spitälern und Ärzt/innen mitgeteilt, rechtskräftig abgewiesene Asylsuchende seien ab sofort nicht mehr medizinisch zu versorgen, ausser wenn es sich um Notfälle handle. Erkrankt eine betroffene Person bedeutet dies, dass sie vor einem Arztbesuch bei einem Angestellten des Sozialamtes erst eine Bewilligung einholen muss.

Bundesamt für Gesundheit stellte 2008 Taten in Aussicht

Im März 2008 beschwerte sich die IGA SOS Racisme dann in Briefen an die damalige Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf und an den damaligen Bundespräsident Pascal Couchepin über die geänderte Praxis. Während die Widmer-Schlumpf keine Möglichkeit sah, bei den Kantonen zu intervenieren, zeigte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Verständnis. Er sei «beunruhigt und erstaunt» über die geschilderten Tatsachen, schrieb Thomas Zeltner, damaliger Direktor des BAG im Auftrag von Bundespräsident Couchepin. Zeltner versprach, das BAG werde dafür sorgen, dass die kantonalen Behörden und die Versicherer das Krankenversicherungsgesetz entsprechend anwendeten, damit der Schutz, welchen das Gesetz gebe, auch garantiert werde.

IGA SOS Racisme sei mit dem Engagement des BAG zufrieden, schrieb die Organisation in einer Medienmitteilung vom 14. Mai 2008. Die Organisation warte nun darauf, dass die Kantone entsprechend handelten. Konkret heisse dies, dass sie die betroffenen Personen wieder versicherten und das System der Notfallmedizin aufgeben, weil es im Rahmen des Krankenversicherungsgesetzes nicht zulässig sei. Falls nötig, müssten die Kantone auch ihre Gesetzgebung ändern.  

Dokumentation