humanrights.ch Logo Icon

Schweiz wegen unverhältnismässiger Polizeigewalt vom EGMR verurteilt

27.10.2013

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Beschwerde von Kalifa Dembele gegen die Genfer Polizei wegen Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) sowohl in prozessualer als auch in materieller Hinsicht gutgeheissen.

Der Sachverhalt

Der in Genf wohnhafte Beschwerdeführer Kalifa Dembele wurde 1975 in Burkina Faso geboren.

Am 2. Mai 2005 wurde Dembele im Rahmen einer Personenkontrolle von zwei Genfer Polizisten an einem als Drogenumschlagsplatz berüchtigten Ort angehalten und gebeten, sich auszuweisen. Dembele machte geltend, im Verlaufe dieser Identitätskontrolle von den Polizisten rassistisch beschimpft, tätlich angegriffen und sogar mit dem Tode bedroht worden zu sein. Obwohl er ihrer Aufforderung sich auszuweisen nachgekommen sei, sei er von den Polizisten zu Boden geworfen und mit einem Schlagstock traktiert worden, bis dieser gebrochen sei. Dem hielten die Polizisten entgegen, dass sich der Beschwerdeführer zunächst geweigert hatte, seine Papiere vorzuweisen. Zudem hätte er trotz dreimaliger Aufforderung seine brennende Zigarette nicht weggeworfen und sich auch nicht wie angeordnet auf den Boden gesetzt. Er sei weiter verbal ausfällig geworden und habe zu flüchten versucht. Angesichts dieses Verhaltens, sahen sich die Beamten gezwungen, den Beschwerdeführer zu Boden zu werfen. Daraufhin habe der Beschwerdeführer einen der Polizisten in den Arm gebissen.

Dembele erlitt laut medizinischem Gutachten eine Fraktur des rechten Schlüsselbeins und musste krankgeschrieben werden.

Strafanzeige wegen Hinderung einer Amtshandlung

Noch am Tag des Vorfalls wurden die diensthabenden Polizisten ärztlich untersucht. Die Untersuchungen ergaben eine leichte Hautschürfung am Arm des einen Polizisten und eine oberflächliche Bisswunde am Unterarm seines Kollegen. Die Polizisten erstatteten Strafanzeige gegen Dembele wegen Hinderung einer Amtshandlung sowie leichter Körperverletzung.

Strafanzeige wegen Polizeigewalt

Am 10. Mai 2005 legte Dembele Beschwerde gegen die beiden Polizeibeamten wegen übertriebener Polizeigewalt ein. Mitte Juni des gleichen Jahres wurde das Verfahren gegen die beiden Polizisten bis zum Abschluss des laufenden Strafverfahrens gegen Dembele sistiert.

Am 11. Januar 2007 wurde die Einstellung des Strafverfahrens gegen Dembele durch die Staatsanwaltschaft angeordnet. Ende August 2007 wurde das Verfahren gegen die beiden Polizeibeamten mangels Beweisen eingestellt.

Gegen diese Einstellungsverfügung erhob Dembele Beschwerde an die nächst höhere Instanz («Chambre d’accusation»). Die Beschwerdeinstanz bestätigte am 9. Januar 2008 den Entscheid der Staatsanwaltschaft. In der Folge gelangte Dembele Anfang Februar 2008 ans Bundesgericht.

Neueröffnung des Verfahrens gegen die Polizisten

Am 27. November 2008 qualifizierte das Bundesgericht die vorangegangenen Untersuchungen im Lichte von Art. 3 EMRK als unzureichend und ordnete eine Neueröffnung des Verfahrens gegen die Polizisten an. Im November 2010 wurde das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft erneut eingestellt. Dieser Entscheid wurde am 4. Februar 2011 durch die Beschwerdeinstanz («Chambre d’accusation») bestätigt. Die Beschwerdeinstanz führte aus, dass der polizeilichen Zwang in der konkreten Situation gerechtfertigt war und verhältnismässig ausgeübt wurde.

Dembele zog den Entscheid der Beschwerdeinstanz ans Bundesgericht weiter. Er rügte die Verletzung von Art. 3 EMRK sowohl in materieller als auch in prozessrechtlicher Hinsicht. Art. 3 EMRK statuiert in materieller Hinsicht ein Verbot der Folter sowie der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Strafe; auf formeller, d.h. prozessrechtlicher Ebene, fordert Art. 3 EMRK ein sorgfältiges, schnelles und unabhängiges Verfahren zur Klärung von geltend gemachten Misshandlungen.

Das Bundesgericht wies seine Beschwerde am 14. September 2011 ab. Es führte aus, dass es die materielle Beurteilung des Falles durch die erste Beschwerdeinstanz («Chambre d’accusation») teile. Weiter verneinte das Bundesgericht sowohl eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes als auch eine Verletzung des Rechts auf ein sorgfältiges und effektives Untersuchungsverfahren. Schliesslich seien alle wesentlichen Beweise ohne Verzug aufgenommen worden und obwohl das Verfahren teilweise sistiert wurde, habe dies zu keiner Veränderung der Beweislage geführt. Zudem sei die Staatsanwaltschaft den im vorhergehenden Bundesgerichtsurteil vom 27. November 2008 angeordneten zusätzlichen Untersuchungen in genügender Weise nachgekommen.

Das Urteil des EGMR

Nach Auffassung des EGMR stellte die Anwendung von Gewalt in der konkreten Situation der Personenkontrolle vom 2. Mai 2005 eine unverhältnismässige Massnahme dar. So führte der Gerichtshof aus, dass Dembele bei seiner Anhaltung nicht bewaffnet gewesen sei. Er habe auch keine Anstalten gemacht, die Polizisten angreifen zu wollen. Sein Widerstand sei vielmehr passiver Art gewesen. Er habe sich erst tätlich zu wehren versucht, als er bereits von den Polizisten zu Boden geworfen worden war. Aus diesem Grund bejahte der EGMR die Verletzung des Verbots der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.

In Anbetracht der Schwere der Vorwürfe gegen die beiden Genfer Polizisten sowie der Tatsache, dass es sich um einfache Untersuchungen gehandelt habe, erachtete der EGMR sodann die Verfahrensdauer von 6 Jahren und vier Monaten bis zum Abschluss des innerstaatlichen Verfahrens als zu lang und die Abklärungen als zu unsorgfältig. So sei die Beweisaufnahme, vor allem in Bezug auf die Klärung der Umstände des Schlüsselbeinbruchs, unvollständig gewesen. Es habe weiter ein Gegengutachten zum zerbrochenen Schlagstock gefehlt, was zur Bestimmung der Sachlage aber notwendig gewesen wäre. Der EGMR kam deshalb zum Schluss, dass auch in formeller Hinsicht Art. 3 EMRK verletzt wurde.

In der Folge hiess der EGMR die Beschwerde wegen der Verletzung von Art. 3 sowohl in materiell-rechtlicher als auch in prozessrechtlicher Hinsicht gut. Dem Beschwerdeführer wurden 15‘700 EUR für den entstandenen Schaden, 4000 EUR für die erlittene immaterielle Unbill sowie 6000 EUR für alle getätigten Ausgaben zugesprochen.

Die abweichende Meinung von Richterin Helen Keller

Nicht einverstanden war die Schweizer Richterin Helen Keller mit dem Urteil. Sie stellt zu Beginn ihrer «Dissenting Opinion» klar, dass es vor allem in Genf aber auch in anderen Städten der Schweiz Fälle von exzessiver physischer Gewaltanwendung von Seiten der Polizei gegeben habe, die unter keinen Umständen toleriert werden dürfe, auch wenn der Kampf gegen den Drogenhandel für die Polizei eine grosse Herausforderung darstelle. Sie bedauert aber, dass das Gericht im konkreten Fall die schweizerische Eidgenossenschaft zum ersten Mal wegen der Verletzung von Art. 3 EMRK verurteilt habe. Sie kommt zum Schluss, dass weder materiell-rechtliche noch eine prozessuale Verletzung von Art. 3 EMRK im konkreten Fall gegeben sei.

Vielmehr sei das Vorgehen der beiden Polizisten absolut notwendig und verhältnismässig gewesen (Ziff. 12). So hätten die Polizisten den Beschwerdeführer korrekterweise zu Boden geworfen um ihn an der Flucht zu hindern und um zu überprüfen, ob er bewaffnet sei. Aus den erhobenen Beweisen liesse sich auf keinen Fall der Schluss ziehen, der Beschwerdeführer sei unmenschlich oder erniedrigend behandelt worden. Schliesslich sei fraglich, ob es sich beim Widerstand des Beschwerdeführers, wie vom EGMR ausgeführt, um einen passiven gehandelt habe, sei es doch erwiesen, dass der Beschwerdeführer einen der Beamten in den Arm gebissen habe. Im Übrigen erfülle das Untersuchungsverfahren die im Rahmen von Art. 3 EMRK statuierten Voraussetzungen.

In Anwendung des in der Deklaration von Brighton vom 20. April 2012 festgelegten Grundsatzes, dass die Vertragsstaaten und der Gerichtshof die Verantwortung bei der effektiven Umsetzung der EMRK teilen, hätte der EGMR anerkennen müssen, dass die innerstaatlichen Instanzen sich direkt auf die Bestimmungen der EMRK bezogen und die Umsetzung von Art. 3 im konkreten Fall eingehend geprüft hätten. Das Urteil werfe damit sowohl mit Blick auf die Feststellung des Sachverhalts als auch aus dogmatischer Sicht schwierige Fragen auf. 

Kommentar

Mit diesem Entscheid hat der EGMR die Schweiz zum ersten Mal wegen Verletzung des Misshandlungsverbots gemäss Art. 3 EMRK verurteilt. Er kam – mit einer Gegenstimme - zum Schluss, dass die Polizeikontrolle mit unverhältnismässiger Härte ausgeführt wurde und – mit zwei Gegenstimmen – dass die Untersuchung zu lange gedauert habe und zu unsorgfältig geführt worden sei. Der Gerichtshof hat mit seinem Urteil einen deutliches Zeichen an die Schweiz gesetzt, dass Polizeigewalt rasch und unabhängig zu untersuchen sei und verhindert werden muss, dass insbesondere Menschen mit dunkler Hautfarbe und sonstige Minderheiten per se als gefährlich eingestuft werden und damit der dauernden Gefahr ausgesetzt sind, mit vergleichsweiser grosser Härte behandelt zu werden. Seit Jahren beklagen sich Angehörige von Minderheiten immer wieder, dass Vorfälle von nicht gerechtfertigten Kontrollen begleitet von unverhältnismässiger und diskriminierender Behandlung durch die Polizei nicht unabhängig untersucht oder gar nicht weiterverfolgt werden. Verschiedene Menschenrechtsgremien (Menschenrechtsausschuss, Ausschuss gegen Folter, Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung) haben der Schweiz denn auch empfohlen, gegen diesen Zustand Massnahmen zu ergreifen.

Im konkreten Fall kann, wie das die Schweizer Richterin in ihrer «Dissenting Opinion» getan hat, durchaus die Frage gestellt werden, ob die Schweiz nicht verglichen mit anderen Staaten zu streng beurteilt wurde. Das Bundesgericht hat sich immerhin zwei Mal mit dem Fall befasst. Es hat das erste Mal die Behörden angewiesen, die Untersuchung noch einmal aufzunehmen und es hat die darauf folgende Einstellungsverfügung im Lichte von Art. 3 EMRK geprüft und schliesslich als rechtmässig beurteilt.

Für die Opfer von Polizeigewalt, die - wenn sie sich beklagen - regelmässig mit Gegenklagen von Seiten der Polizei rechnen müssen und meistens über wenig Rechtskenntnisse sowie kaum über die notwendigen Ressourcen verfügen, um sich durch alle Instanzen durchzukämpfen, ist dieses Urteil von grosser Bedeutung: Unverhältnismässige Polizeigewalt darf, in welcher Form auch immer, nicht geduldet werden und muss angemessen, unabhängig und rasch untersucht werden. Das Urteil kann damit dazu beitragen, dass die Behörden sich der unleugbar bestehenden Problematik einer weitgehenden Straflosigkeit der Polizei sorgfältig annehmen und effektive Massnahmen zum Schutze gerade auch (aber nicht nur) von dunkelhäutigen Personen vor unverhältnismässig agierenden Polizeiangehörigen ergreifen.

Dokumentation

Weiterführende Informationen