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Kritik an den Vorschlägen des Bundesrats

27.09.2011

Neuer Ansatz zur Reform des Initiativrechts

Momentan werden verschiedene Themen mit Bezug zur Verfassung in getrennten Dossiers vermischt diskutiert, ohne dass sich die politischen Akteure der Querbeziehungen bewusst wären, nämlich:

  • Verfassungsgerichtsbarkeit
  • Verhältnis von Schweizer Landesrecht zum Völkerrecht
  • Reform des Initiativrechts, um das Problem von grundrechtswidrigen Initiativen in den Griff zu bekommen.

Ausgangslage

Die Verfassungsrevision 2000 und die Justizreform 2004 haben zwei Probleme liegen lassen: Eine Verfassungsgerichtsbarkeit konnte nicht eingeführt werden, und das Verhältnis des Schweizer Landesrechts zum Völkerrecht ist nach wie vor ungeklärt. Beide Themen sind seit längerem Gegenstand parlamentarischer Vorstösse.

Mit der Zunahme und insbesondere der Annahme von Volksinitiativen, die bewusst Völkerrecht und Grundrechte der Verfassung ritzen, ist in den letzten Jahren ein drittes Problem hinzugekommen. Vielen politischen Akteuren fällt es schwer, dieses Problem in seiner Eigenständigkeit zu erkennen. Oft wird es in den Kontext der Diskussion um das Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht gestellt. Die Reform des Initiativrechts wäre jedoch thematisch bei der Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit besser aufgehoben als bei der Diskussion Landesrecht-Völkerrecht.

Schlingerkurs der Diskussion

Mit dem Postulat 07.3764 beauftragte die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates den Bundesrat, einen Bericht über das Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht auszuarbeiten. Diese sachliche Abgrenzung wurde zunichte gemacht mit dem Postulat 08.3765 der staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-NR), die den Bericht des Bundesrates im Huckepackverfahren erweiterte um die Fragestellung, wie problematische Initiativen in den Griff zu kriegen seien.

Als der Bericht am 5. März 2010 erschien, wurde dem Bundesrat vorgeworfen, sich um die heiklen Fragen zu drücken, mit ein Hinweis darauf, dass zu diesem Zeitpunkt die Diskussion um das Verhältnis Landesrecht und Völkerrecht bereits überlagert worden war durch dem Themenkreis «Reform des Initiativrechts». Die SPK-NR doppelte nach mit dem Postulat 10.3885, das vom Bundesrat einen Zusatzbericht eingegrenzt auf diesen Themenkreis verlangte. Dieser Zusatzbericht vom 30. März 2011 legte die Vorschläge «Warnhinweis» und «Erweiterung der materiellen Gültigkeitskriterien um den Kerngehalt der Grundrechte» vor, die vom Parlament bereitwillig aufgenommen wurden (vgl. die Motionen 11.3468 SPK-NR und 11.3751 SPK-SR). Aber der Zusatzbericht blieb zu stark in der ursprünglichen Thematik Landesrecht-Völkerrecht verhaftet, als dass wirklich innovative Lösungsvorschläge möglich gewesen wären.

Verfassungsgerichtsbarkeit

Die Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit verlief demgegenüber bis jetzt relativ unspektakulär und losgelöst von den beiden anderen Problemkreisen. Ausgehend von den Vorstössen 05.445 und 07.476 liegt inzwischen der Vorschlag vor, Artikel 190 BV einfach zu streichen, der Bundesgesetze und Völkerrecht als für die rechtsanwendenden Behörden massgebend erklärt. Nach den allgemeinen Regeln der Normenhierarchie wäre dann die Bundesverfassung massgebend und damit die Verfassungsgerichtsbarkeit in einer diffusen Form (Ausübung durch alle rechtsanwendenden Behörden, nicht nur zentral durch das Bundesgericht) verwirklicht. Diese Diskussion setzt sich richtigerweise und bewusst nicht mit dem Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht auseinander. Eine Standortbestimmung gegenüber der Diskussion um die Reform des Initiativrechts wurde hingegen bis jetzt noch nicht vorgenommen.

Grundrechte als Bindeglied

Dennoch gibt es ein systematische Bindeglied zwischen der Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Reform des Initiativrechts, über die sich die Entscheidungsträger unbedingt im Klaren sein müssen. Denn viele Befürworter einer Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit stören sich am Gedanken, dass die Grundrechte bisher nicht vor einfachen Bundesgesetzen geschützt waren. Dies ist geradezu der Leitgedanke in der Begründung des Vorstosses 07.476. Sogar Skeptiker einer allgemeinen Verfassungsgerichtsbarkeit befürworten deren Einführung im Bereich der Grundrechte.

Forderung nach einer Grundrechtsgerichtsbarkeit

Die Problematik grundrechtswidriger Volksinitiativen hingegen war nicht Gegenstand der Vernehmlassung zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Dennoch haben die Eingaben der Freikirchen Schweiz und des Club Hélvetique des Pudels Kern erfasst: Sie schlagen vor, in Artikel 190 BV die Grundrechte als für die rechtsanwendenden Behörden massgebend zu erklären. Das hiesse im Ergebnis nichts anderes, als dass die Grundrechte der Verfassung Vorrang haben nicht nur vor Bundesgesetzen und Völkerrecht, sondern auch vor dem übrigen Verfassungsrecht. foraus machte erstmals in einer Studie vom April dieses Jahres auf diesen eleganten Weg aufmerksam.

Demokratie nicht auf Vorrat einschränken

In einem demokratischen Rechtsstaat sollen nur die Grundrechte als nicht verhandelbar dem Spiel der demokratischen Kräfte entzogen sein. Alle übrigen Fragen, etwa der Zuwanderung oder der internationalen Handelsbeziehungen, sind über den politischen Diskurs zu lösen, wovon die direktdemokratischen Mittel des Referendums und der Initiative untrennbare Bestandteile sind und bleiben sollen.

Nach dieser hier vertretenen Auffassung ist eine Volksinitiative nur dann «problematisch», wenn sie in unsere Grundrechte eingreift, und die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht stellt sich nur dann, wenn dieses Völkerrecht dieselben Werte wie die Grundrechte verkörpert. Die Diskussion um eine Reform des Initiativrechts wäre also besser aufgehoben bei der Reform einer als Grundrechtsgerichtsbarkeit verstandenen Verfassungsgerichtsbarkeit.

Das Verhältnis des Landesrechts zum Völkerrecht könnte sodann, von der emotionalen Diskussion um die Reform der Volksrechte entschlackt, entspannter und umfassender geklärt werden. Diese Debatte ist auch so komplex genug.

(Dieser Beitrag ist in einer kürzeren Version im forausblog erschienen)

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Nachstehend ein dazu passender humanrights.ch-Artikel vom 12. Mai 2011

Verhältnis Landesrecht-Völkerrecht: Wie weiter nach dem Bericht des Bundesrates?

Seit der Annahme der Minarett-Initiative ist nicht nur in politischen, sondern auch in juristischen Kreisen eine breite Diskussion zum Verhältnis und der Vereinbarkeit von Volksinitiativen, Völkerrecht und Grundrechten in Gang gekommen. Seither sind auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichen Kreisen Vorschläge vorgebracht – und viele davon wieder verworfen – worden. Mit Spannung hatten auch diese Kreise den Bericht des Bundesrates erwartet, der Ende März 2011 endlich erschienen ist.

Die politische Debatte

Auf der politischen Ebene entspann sich im Nationalrat Mitte April 2011 bei der Behandlung  einer parlamentarischen Initiative von Isabelle Moret (FDP, Waadt) eine erste Diskussion über das weitere Vorgehen. Die NZZ schrieb unter dem Eindruck dieser Debatte, dass es die Vorschläge des Bundesrates schwer haben dürften. Die Initiative Moret, welche verlangte, dass ein Gericht noch vor Beginn der Unterschriftensammlung entscheiden solle, ob problematische Volksinitiativen für ungültig zu erklären seien, scheiterte im Nationalrat klar.

Am 19. Mai wird nun die nationalrätliche Staatspolitische Kommission (SPK) über die Vorschläge des Bundesrats diskutieren. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob der Bundesrat vom Parlament beauftragt werden soll, eine Vorlage auszuarbeiten.

Kritik am Bericht des Bundesrats im Jusletter

Erste Reaktionen aus Fachkreisen auf den Bericht des Bundesrates waren verhalten pessimistisch. Stefan Schlegel und David Suter, zwei Autoren aus dem Umkreis des Think Tanks foraus, haben sich nun als erste eingehender mit den Vorschlägen des Bundesrates auseinandergesetzt und in der juristischen Online-Fachzeitschrift «Jusletter» eine ausführlichere Kritik veröffentlicht.

Sie vertreten die Ansicht, dass die vom Bundesrat vorgeschlagene Vorprüfung von Volksinitiativen durch die Bundesbehörden den enormen Nachteil habe, dass der Entscheid durch Weisungen des Bundesrates beeinflusst werden könne. Die Möglichkeit der Einflussnahme, die im politischen Alltag nicht unwahrscheinlich scheint, führe letztlich dazu, dass die Vorprüfung ein politischer Akt bleibe.

Ein weiterer Punkt, der nach Ansicht der Autoren gegen die Vorschläge des Bundesrates im Zusammenhang mit einer Vorprüfung spricht, ist der Umstand, dass keine Beschwerdemöglichkeit gegen den Behördenentscheid vorgesehen ist. Dies schränkt nach Ansicht der Autoren die Garantie des Rechtsweges (Art. 29 a BV) ein, ohne dass es dafür einen sinnvollen Grund gäbe.

Für eine Kollisionsnorm in der Verfassung

Keine Unterstützung bei den Autoren findet ferner die Einführung einer neuen materiellen Schranke für Volksinitiativen, wie sie der Bundesrat vorschlägt. Demnach müssten Volksinitiativen künftig für ungültig erklärt werden, wenn diese gegen Kernelemente der Grundrechte in der Bundesverfassung verstossen. Diese Schranke sei ungeeignet, weil der Schutz der Grundrechte zu schwach und zu unklar sei und die Gefahr bestehe, dass nur die klassischen Freiheitsrechte geschützt würden. Stattdessen regen die Autoren an, eine Kollisionsnorm in die Verfassung aufzunehmen, die den Grundrechten in der Bundesverfassung gegenüber andern Verfassungsnormen, dem übrigen Landesrecht und gegenüber dem Völkerrecht im einzelnen Anwendungsfall den Vorrang einräumen.

Ausführliches Grundlagenpapier

Die Autoren Stefan Schlegel und David Suter konnten sich für ihren Jusletter-Artikel auf ein ausführliches foraus-Diskussionspapier vom April 2011 stützen, an dessen Ausarbeitung sie beteiligt waren. Dieses Papier bietet einen umfassenden Überblick über die aktuelle Diskussion. Es enthält eine historische Annäherung an das Thema sowie eine Auslegeordnung und Bewertung aller bisher in der Reformdiskussion genannten Ideen. Das foraus-Diskussionspapier enthält über die kritische Sichtung hinaus auch einen eigenständigen Lösungsansatz für die Problematik. Der von den Autoren des Jusletters publizierte Vorschlag einer Kollisionsnorm mit Vorrecht der Grundrechte stammt aus diesem Papier und wird dort ausführlicher begründet.

Dokumentation