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Erste Anwendung der Strafnorm gegen Genitalverstümmelung

18.04.2019

Wer sich der Verstümmelung weiblicher Genitalien schuldig macht, wird von Amtes wegen bestraft. Dabei muss sich die Straftat weder hierzulande abspielen, noch der Täter oder die Täterin zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz verweilen.

Der Bundesrat setzte per 1. Juli 2012 die neue spezifische Strafnorm gegen Verstümmelung von weiblichen Genitalien in Kraft. Das Strafgesetzbuch (StGB) wurde um den Artikel 124 ergänzt. Demnach macht sich strafbar, «wer die Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, in ihrer natürlichen Funktion erheblich und dauerhaft beeinträchtigt oder in anderer Weise schädigt». Den (Mit)tätern/-innen droht eine bis zu 10-jährige Freiheitsstrafe. Die Verjährungsfrist für die Strafverfolgung wurde einheitlich auf 15 Jahre festgesetzt. Bei Opfern unter 16 Jahren bleibt die Verfolgung der Tat mindestens bis zu deren vollendeten 25. Lebensjahr möglich.

Erst im Juli 2018 sprach ein Regionalgericht im Kanton Neuenburg das erstes Urteil zum Verbot der Verstümmelung weiblichen Genitalien gemäss Art. 124 StGB. Dieses wurde im Februar 2019 vom Bundesgericht bestätigt. 

Alle Formen der Genitalverstümmelung verbieten

Sexuelle Verstümmelung stellt eine schwerwiegende Verletzung der Integrität und der Würde der betroffenen Mädchen und Frauen dar. Seit Jahren verlangen verschiedene Menschenrechtsgremien und Organisationen ein Verbot, unter ihnen auch UNICEF Schweiz, welche die bisherige Regelung als ungenügend beurteilte. Vor der Revision des Strafgesetzbuches im Jahr 2012 war es lediglich zu zwei Prozessen wegen Genitalverstümmelung gekommen. Strafbar war sie in der Schweiz damals, sofern sie als schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 StGB bewertet wurde, was nur für die Infibulation und die Exzision der Fall war.

Der neue Straftatbestand von 2012 stellt sämtliche Formen der Genitalverstümmelung unter Strafe. Gleichzeitig konkretisiert er, dass eine Genitalverstümmelung auch dann verboten ist, wenn eine volljährige Person in den Eingriff einwilligt. Von der Strafbarkeit ausgenommen sind leichte Eingriffe wie Tattoos, Piercings oder gewisse ästhetische Eingriffe im Genitalbereich. Neben der Erfassung aller Formen ungewünschter genitaler Verstümmelung erhofften sich Politik, Behörden und Fachkreise vom expliziten Verbot eine symbolisch abschreckende Wirkung. Genitalverstümmelungen gelten weiterhin als Offizialdelikte. Bestraft werden nicht nur Personen, welche die Verstümmelung vornehmen, sondern als Mittäter und Anstifter, z.B. auch die Eltern.

Der Geltungsbereich der Strafnorm

Gemäss dem sogenannten Universalitäts- resp. Weltrechtsprinzips kann die Schweiz auch Verbrechen und Vergehen bestrafen, die von Ausländerinnen und Ausländern ausserhalb der Schweizer Landesgrenzen begangen wurden. Vorausgesetzt wird dabei einzig, dass sich die entsprechende Straftat gegen international geschützte Rechte richtet.

Die Verstümmelung weiblicher Genitalien wird in diesem Sinne durch zentrale Menschenrechtsverträge der UNO untersagt. So verbieten der UN-Pakt II über bürgerliche und politische Rechte und die Antifolterkonvention die grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und alle Vertragsstaaten der UN-Kinderrechtskonvention sind dazu verpflichtet, überlieferte und für die Gesundheit von Kindern schädliche Bräuche abzuschaffen. Aus diesem Grund ist es den Schweizer Gerichten möglich, Täterinnen und Täter für die Verstümmelung weiblicher Genitalien zu bestrafen, auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde.

Mithilfe der Universalitätsklausel in Art. 124 Abs. 2 StGB soll insbesondere verhindert werden, dass in der Schweiz lebende Kinder zur Durchführung einer Beschneidung in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Anders als in Frankreich, Grossbritannien und Italien, schreibt das Schweizer Recht jedoch nicht vor, dass sich die (Mit)täter/innen zum Zeitpunkt der Tat bereits in der Schweiz aufgehalten haben müssen. Die Behörden müssen auch dann von Amtes wegen bestrafen, wenn die besagte Tat vor der Einreise in die Schweiz verübt worden ist.

Ebenfalls strafbar machen sich nach Artikel 124 Abs. 2 StGB Personen, die eine Genitalverstümmlung in einem anderen Land durchgeführt haben, in welchem dieser Brauch nicht unter Strafe steht. Diese Ausgestaltung der Universalitätsklausel ist jedoch nicht unbestritten und wurde vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte kritisiert.

Erstes Urteil in Neuenburg

Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Universalität haben sich in einem ersten Fall vor dem Regionalgericht «Tribunal du Littoral et du Val-de-Travers» im Kanton Neuenburg herauskristallisiert. Am 12. Juli 2018 wurde eine im Kanton Neuenburg wohnhafte Mutter aufgrund der Genitalverstümmelung ihrer beiden Töchter, die in Somalia vorgenommen wurde, zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Angezeigt wurde die Somalierin von ihrem Mann, von welchem sie heute getrennt lebt.

Die Verteidigerin, Frau Béatrice Haeny, beantragte einen Freispruch mit der Begründung, dass sich die Mutter zum Zeitpunkt der Straftat nicht in der Schweiz befand. Gemäss der Verteidigung sei die Universalitätsklausel in der Strafnorm dazu bestimmt, den «Genitalverstümmelungs-Tourismus» zu verhindern und sicherzustellen, dass in der Schweiz wohnhafte Personen ihre Töchter nicht zur Beschneidung ins Ausland schicken. Die besagte Mutter sei jedoch erst nach den beiden Genitalverstümmelungen mit ihren Töchtern Ende 2015 durch Familienzusammenführung in die Schweiz gekommen und demnach vom Tatbestand nicht erfasst.

Die zuständige Richterin, Nathalie Kocherhans, liess diese Argumentation nicht gelten und befand eine solche Auslegung des Universalitätsprinzips als unzulässig. Die Strafe, welche angesichts der Schwere der Straftat relativ gering ausgefallen ist, berücksichtige jedoch die schwierige Situation der Mutter, welche in ihrem Heimatland unter grossem sozialen Druck gestanden habe, ihre Töchter beschneiden zu lassen. Die Strafe habe vor allem symbolischen Charakter: «Ich masse mir nicht an, die Dinge ändern zu können. Aber vielleicht trägt dieses Urteil dazu bei, das Leid von Millionen von Mädchen zu beseitigen», so die Richterin des Regionalgerichts. Dieser Urteilsspruch schuf einen Präzedenzfall, dessen Einschätzungen etwas mehr als ein halbes Jahr später vom Bundesstrafgericht bekräftigt wurden.

Das Bundesgericht bestätigt die Auslegung der Vorinstanz

Nachdem auch das Neuenburger Kantongsgericht im Dezember 2018 die Beschwerde der Mutter abgelehnt hatte, zog diese den Schuldspruch vor das Bundesgericht. Die Bundesrichter/innen folgten in ihrer Argumentation der kantonalen Urteilsbegründung und wiesen die Beschwerde in allen Punkten ab.

In den Erläuterungen verwies das Gericht unter anderem auf die Entstehungsgeschichte der fraglichen Norm. Der Gesetzgeber habe die auf dem Universalitätsprinzip begründete Regelung von Art. 124 Abs. 2 StGB in keiner Weise auf Personen beschränken wollen, die sich zum Zeitpunkt der Tat in der Schweiz befinden. Die Strafverfolgung wegen Genitalverstümmelung müsse demnach auch Täter/innen treffen, welche erst nach der Erfüllung des Straftatbestands in die Schweiz eingereist sind.

Das Bundesgericht bestätigt damit, dass die Universalitätsklausel in Artikel 124 Abs. 1 StGB weit ausgelegt werden muss und auch Beschuldigte zur Verantwortung zieht, welche zum Zeitpunkt der Tat keinerlei Bezug zur Schweiz aufgewiesen haben. Das Verbot der Verstümmelung der weiblichen Genitalien zielt demnach im Sinne einer Generalprävention auf eine grösstmögliche Repression.

Ein Fall für 15'000 Opfer in der Schweiz

Gemäss den Schätzungen des Bundesrates in einem Bericht vom Oktober 2015 sind in der Schweiz fast 15'000 Frauen und Mädchen von solchen Interventionen betroffen oder bedroht. In einer Umfrage sprach Unicef Schweiz von rund 10'700. Trotz der grossen Anzahl von Betroffenen war vor dem Fall in Neuenburg keine einzige Anzeige aufgrund des neuen Artikels 124 eingegangen.

Gemäss einer Umfrage von Unicef unter mehr als 1000 Fachärzten/-innen wäre es naiv zu glauben, dass diese Anzeigen aufgrund fehlender Kenntnisse solcher Vorfälle ausblieben. Vielmehr seien vier von fünf Gynäkologen/-innen und zwei von drei Geburtshelfer/innen in ihrer Tätigkeit bereits mit an den Genitalien verstümmelten Frauen oder Mädchen in Kontakt gekommen. Berichten zufolge wurden 15% der Kinderärzte/-innen bereits von Mädchen konsultiert, welche Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung geworden sind.

In Gesundheits- und Sozialberufen werden die Arbeitstätigen oft mit solchen Sachverhalten konfrontiert. Im Jahr 2014 gaben im Kanton Genf mehr als 50% der Angehörigen dieser Berufsgruppen an, mit betroffenen Opfern in Kontakt gekommen zu sein. Im «Centre hospitalier universitaire vaudois» (CHUV) schätzte man die Anzahl der betroffenen Patientinnen im Jahr 2012 auf rund 600.

Diese Zahlen verdeutlichen den Bedarf an Information und Sensibilisierung zu dieser Thematik. Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz hat aus diesem Grund eine Internetplattform zur Information und Unterstützung betroffener Frauen wie auch von involvierten Fachkräften, ins Leben gerufen.

«Intergeschlechtlichkeit» – Umgang mit Geschlechtsvarianten

Bedauerlich ist ferner, dass mit dem im Jahr 2012 geschaffenen Straftatbestand nicht geklärt ist, ob und unter welchen Umständen die problematischen Geschlechtsoperationen bei Menschen, die mit einer Geschlechtsvariation geboren wurden, weiterhin möglich sind. Zwangsoperationen waren in diesen Fällen bei sehr jungen Kindern in der Schweiz bislang üblich und aus Sicht der Selbstbestimmungsrechte der Betroffenen zweifellos fragwürdig. Amnesty International und Terre des Femmes Schweiz (TdF) hatten deshalb in der Vernehmlassung gefordert, dass der Gesetzgeber diese geschlechtsangleichenden Operationen in das Verbot der sexuellen Verstümmelungen miteinbezieht. 

Dokumentation