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Invalidenversicherung: Verfahren nicht EMRK-konform

03.11.2011

Die Gutachterpraxis der Invalidenversicherung (IV) genügt den Bedingungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht. Laut einem Rechtsgutachten von Prof. Dr. iur. Jörg Paul Müller und Dr. iur. Johannes Reich vom März 2010 verstösst sie gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK). Die beiden Autoren bemängeln ausdrücklich die finanzielle Abhängigkeit der medizinischen Gutachterstellen von der IV.

Neuer Bundesgerichtsentscheid vom Juni 2011

Das Bundesgericht hatte in einem Entscheid vom 28. Juni 2011 Gelegenheit, sich zu der EMRK-Konformität der Gutachterpraxis der Invalidenversicherung (IV) zu äussern. Anders als in früheren Entscheiden hielt es im Urteil BGE 137 V 210 fest, dass gewisse Korrektive im Verfahren notwendig seien. Demnach ist die Einholung von Gutachten bei Medizinischen Abklärungsstellen MEDAS zwar grundsätzlich weiterhin zulässig. Allerdings zeigt das Bundesgericht auf, welche bisher gängigen Praktiken korrigiert werden müssen. So sollen unter anderem die Gutachten zukünftig nach Zufallsprinzip an die MEDAS-Stellen vergeben werden. Es sei ferner ein differenzierteres Entschädigungssystem auszuarbeiten und die Gehörs- und Partizipationsrechte der versicherten Person sollen gestärkt werden. Sollten die zuständigen Behörden diese Korrektive nicht binnen angemessener Frist prüfen, behält sich das Bundesgericht vor, im Rahmen von Art. 190 BV gestützt auf die einschlägigen Verfahrensgarantien weitergehende verbindliche Korrekturen vorzunehmen.

Wie ein IV-Verfahren funktioniert

Wer bei der IV eine Rente beantragt, tut dies bei der kantonalen IV-Stelle. Diese klärt ab, ob ein Rentenanspruch besteht und beauftragt dazu i.d.R. eine Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS), welche ihrerseits Ärzte beschäftigt. Diese klären die Arbeitsfähigkeit des/r Antragstellers/-in ab. Die daraus resultierende Beurteilung des Falles bietet der IV die Entscheidgrundlage über die Leistungsansprüche. Antragstellende können zwar die Beurteilung über das kantonale Verwaltungsgericht anfechten. Die durch die IV eingeleiteten ärztlichen Diagnosen bieten aber oft auch vor Gericht die primäre Entscheidgrundlage. Verantwortlich für die Kontrolle und die Überwachung der Vorgehensweise der IV ist das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).

Fehlende Unabhängigkeit

In der Schweiz gibt es mehrere solche MEDAS-Stellen. Sie sind privatrechtlich organisiert und gewinnorientiert. Einen hohen Anteil ihrer Einkommen erwirtschaften sie aus den Aufträgen der IV. Laut Angaben des Schweizer Fernsehens (SF) erbrachte etwa die MEDAS Zentralschweiz 90 Prozent (3,4 Millionen Franken) ihres Umsatzes vom Jahr 2009 aus den IV-Gutachten. Würden die medizinischen Gutachterstellen ihre Aufträge von der IV verlieren, wäre ihre wirtschaftliche Grundlage bedroht. Aufgrund dieser Abhängigkeit haben sie ein elementares Interesse daran, ihre Fälle zu Gunsten der IV zu beurteilen. In der Regel tun sie das auch (nämlich in 9 von 10 Fällen wie der Vertreter des BSV gegenüber dem Fernsehen sagte). Dennoch stellte sich das Bundesgericht bislang auf die Position, die fachlich-inhaltliche Unabhängigkeit der MEDAS genüge als alleinige Prämisse für ein faires Verfahren. Es sah diese selbst dann als gegeben, wenn das vollständige Einkommen eines/r Mediziners/-in aus den IV-Gutachten kommt. Daraus folgt, dass das Bundesgericht regelmässig die Beweiskraft eines medizinischen Gutachtens durch eine/n MEDAS-Arzt/Ärztin eminent höher gewichtet als die Beweislast eines Gutachtens, welches ein/e andere/r Arzt/Ärztin erstellt. Letzteres billigt das Gericht stets nur als eine Parteivorbringung, auch wenn es sich nicht um den Hausarzt/-ärztin eines Patienten handelte.

Der Europäische Gerichtshof verweist auf Grundsatz der Waffengleichheit

Prof. Dr. jur. Jörg Paul Müller und Dr. iur. Johannes Reich sind nun der rechtlichen Frage eingehend nachgegangen, ob diese Praxis den Voraussetzungen für ein faires Verfahren (Art. 6 Abs 1 EMRK) genügt. Sie verneinen dies in ihrem Rechtsgutachten und verweisen darauf hin, dass der EGMR sich in der einschlägigen Rechtssprechung formell vorwiegend auf den aus dem Fairnessprinzip abgeleiteten Grundsatz der Waffengleichheit berufe. Dieser Grundsatz fordert die Chancengleichheit und die gleichmässige Gewichtung der Prozessparteien durch Berücksichtigung der Argumente beider Seiten. Die Autoren weisen darauf hin, dass auch das Bundesgericht in seiner Rechtssprechung die Ansicht vertritt, dass sich gerade im Sozialversicherungsverfahren der Grundsatz der Waffengleichheit als besonders wichtig erweist, da die Beteiligten sehr ungleiche Ressourcen aufweisen. Dennoch spreche es die volle Beweiskraft ausschliesslich den medizinischen Beurteilungen der MEDAS zu. Diese ungleiche Behandlung der ärztlichen Diagnosen durch das Gericht stelle eine klare Verletzung der Waffengleichheit dar, meinen die Rechtsgutachter.

Verbände bieten Lösungsvorschläge

Sechs Behindertenverbände (Procap, Pro Mente Sana, Integration Handicap, Schweizerischer Gehörlosenbund, Behindertenforum und Schweizer Paraplegiker-Vereinigung) stellten im Anschluss an das Rechtsgutachten ein Positionspapier zusammen. In diesem Schreiben vom 8.  Februar 2010 fordern sie die Anpassung des Gutachterverfahrens an die Standards der EMRK. Diese soll ein geregeltes Beauftragungsverfahren, unabhängiges Controlling und unabhängiges Qualitätsmanagement zum Ziel haben. Hierzu präsentieren die Verbände verschiedene Lösungsvorschläge, wie die Begrenzung des Anteils der Gutachtertätigkeit an der Gesamttätigkeit, eine zentrale Gutachter-Zuweisungsstelle, verstärkte Konsultation des behandelnden Arztes durch den Gutachter, sowie die umfassende Beurteilung des Verfahrens von verschiedenen Seiten. Auch der Verein Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) und die  Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patienten fordern in einer Medienmitteilung vom 10. März 2010, dass Bundesrat und Parlament eine gesetzliche Grundlage für die Verfahren betreffend IV-Renten schaffen, welche die Garantien eines fairen Verfahrens gemäss Art. 6 EMRK einhält.

Verantwortliche weisen Schuld von sich

Selbst nach der negativen Beurteilung durch das Rechtsgutachten sieht Marc Gysin, Vorstandsmitglied der Konferenz der IV-Stellen (IVSK), immer noch keinen Handlungsbedarf. Gemäss seinen Aussagen gegenüber der Zeitschrift Plädoyer zählt die ständige Rechtssprechung, wonach die MEDAS unabhängig ist. Auch Ralf Kocher, der Leiter des Rechtsdienstes der IV im BSV, bestreitet die im Rechtsgutachten beschriebene Problematik. Da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das IV-Verfahren bereits zuvor geschützt habe und das Bundesgericht keinen Anlass für Änderungen sehe, bestehe auch für das Bundesamt kein Grund für Anpassungen. Ausserdem sei das Interesse an versicherungsfreundlichen Gutachten laut Kocher ohnehin nicht vorhanden, da das Gericht diese nicht anerkennen würde. Als einziger Akteur erkennt das Bundesgericht die Problematik und erwähnt diese auch im Geschäftsbericht 2009. Die Verantwortung für die Misslage schiebt es aber zurück an das BSV. Eine Chance für Anpassungen sieht das Bundesgericht daher auch nicht im Rahmen der Rechtssprechung, sondern in der 5. IV-Revision.

Die Politik wird aktiv

Positive und aktive Reaktionen auf das Rechtsgutachten sind nur von Seiten des Gesetzgebers ersichtlich. Verschiedene Nationalräte/-innen haben im März 2010 eine parlamentarische Initiative in die Wege geleitet, mit der Forderung, das IV-Verfahren so anzupassen, dass es den Bedingungen von Artikel 6 EMRK entspricht. Die Hauptinitiantin, die Berner SP-Nationalrätin Margret Kiener-Nellen, betont aber gegenüber dem Plädoyer, dass die Umsetzung eines solchen Verfahrens mindestens sechs Jahre dauert. Ausserdem sei die Durchsetzung des Anliegens aufgrund der starken Lobbykraft der MEDAS ungewiss.

Dokumentation

Weiterführende Informationen

  • EMRK Art. 6
    auf der Website der Schweizerischen Eidgenossenschaft