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Sozialrechte als Menschenrechte - Dossier

Zur rechtlichen Bedeutung der sozialen Menschenrechte

03.06.2019

Seit die UNO-Generalversammlung im Jahr 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedete, scheiden sich die Geister an der Frage, inwiefern sich der rechtliche Status der sogenannten klassischen Freiheitsrechte von jenem der Sozialrechte unterscheidet. Nichtsdestotrotz gehört die Doktrin, wonach Sozialrechte keine subjektiven Menschenrechte seien, in der Zwischenzeit der Vergangenheit an. So betonten die Mitgliedstaaten der UNO in der Wiener Erklärung und Aktionsprogramm vom 25. Juni 1993, dass die Menschenrechte unteilbar sind und sich gegenseitig stärken.

Es ist allgemein anerkannt, dass die Sozialrechte zwei Achsen haben. Einerseits bringen sie Verpflichtungen für Staaten mit sich, welche Individuen einklagen können. Andererseits sind sie programmatischer Natur. Gemäss Art. 2 des UNO-Pakts über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte müssen die Staaten progressiv daran arbeiten, die Sozialrechte zu verwirklichen. Zudem haben die Staaten die Pflicht, sowohl die bürgerlichen und politischen Rechte als auch die Sozialrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.

Grundlagen

In der Schweiz gehören der UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Kinderrechtskonvention, die Frauenrechtskonvention und die Behindertenrechtskonvention zum geltenden Recht, nicht aber die (revidierte) Europäische Sozialcharta und die Wanderarbeiter/innen-Konvention. Auf internationaler Ebene sind die sozialen Menschenrechte zuerst 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dann als rechtsverbindliche Verträge im Jahre 1960 in der Europäischen Sozialcharta und 1966 im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte festgeschrieben worden. Zudem enthalten diverse gruppenspezifische Abkommen Sozialrechte.

UNO

Europarat

Organisation amerikanischer Staaten

Rechtliche Bedeutung

Heute besteht ein breiter Konsens, dass alle Menschenrechte gewisse unmittelbare, individuell einklagbare Verpflichtungen der Staaten mit sich bringen, so wie sie auch andere, eher programmatische Anweisungen an die Gesetzgeber beinhalten. Freiheitsrechte und Sozialrechte unterscheiden sich in dieser Hinsicht bloss graduell. Der Grundsatz der Unteilbarkeit aller Menschenrechte macht folglich die Idee eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Freiheitsrechten einerseits und Sozialrechten andererseits obsolet.

Art. 2 des UNO-Pakts über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) scheint die normative Kraft der WSK-Rechte allerdings zu schmälern. Demnach sollen die Vertragsstaaten «unter Ausschöpfung aller ihrer Möglichkeiten» Massnahmen treffen, um die Verwirklichung der Vertragsgarantien «nach und nach mit allen geeigneten Mitteln» zu erreichen. Aus dieser Klausel wird öfters der rein programmatische Charakter der WSK-Rechte abgeleitet, was bedeutet, dass ihnen der Charakter als individuelle, einklagbare Menschenrechte abgesprochen wird.

Diese Lehrmeinung ist heute veraltet. Denn Art. 2 bezieht sich bloss auf einen Teil der staatlichen Verpflichtungen, nämlich die Gewährleistungspflichten, und selbst in Bezug darauf gibt es Elemente, welche eine unmittelbare, einklagbare Rechtsnatur aufweisen. Dazu gibt es bestimmte staatliche Achtungs- und Schutzpflichten, auf welche die Individuen einen direkten, einklagbaren Anspruch haben.

Justiziable und nicht-justiziable Anteile

Der UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte begründet also bestimmte unmittelbare, justiziable Achtungs- und Schutzpflichten für die Vertragsstaaten. Selbst im Hinblick auf gewisse Teilgehalte der Gewährleistungspflichten haben auch die WSK-Rechte eine unmittelbare, gerichtlich einklagbare Rechtsbedeutung. Es handelt sich dabei insbesondere um die Pflcht, sofortige Massnahmen zu ergreifen, um die garantierten Rechte vollständig zu realisieren. Diese Massnahmen müssen konkret, angemessen und gezielt sein. Der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erachtet unter anderem folgende Teilgehalte von Gewährleistungspflichten als justiziabel:

  • Minimale Ansprüche auf Überlebenssicherung (z. B. Nahrung, Kleidung und Unterkunft)
  • Leistungsansprüche in Situationen umfassender staatlicher Kontrolle über eine Person (z. B. im Freiheitsentzug)
  • Diskriminierungsschutz in Bezug auf den Zugang zu staatlichen Leistungen

Zudem kann die Einklagbarkeit eines Rechts mit dem Prinzip der Nicht-Regression, gemäss welchem eine Absenkung des bestehenden Schutzniveaus untersagt ist, gerechtfertigt werden. So könnte beispielsweise eine Privatperson, deren Sozialleistungen gekürzt werden sollen, das Recht auf soziale Sicherheite einklagen.

Beispiele für einklagbare und nicht einklagbare Anteile von Staatenpflichten finden sich in den folgenden Portraits zu sozialen Menschenrechten:

Dokumentation