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Seilziehen um den UNO-Migrationspakt geht weiter

13.12.2018

Das Parlament hat die Zustimmung des Bundesrates zum UNO-Migrationspakt vorläufig unterbunden. Anlässlich der Verabschiedung des Paktes durch die UNO am 10. Dezember 2018 hat die Schweiz mit Abwesenheit geglänzt.


Am 10. Oktober 2018 hatte der Bundesrat überraschend mitgeteilt, er stimme dem «Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration» (UNO-Migrationspakt) zu. Überraschend kam der Entscheid, weil Aussenminister Cassis erst am 14. September 2018 in einem Interview mit der NZZ kommuniziert hatte – ebenfalls überraschend –, dass weitere Abklärungen zu den innen- und aussenpolitischen Auswirkungen des Pakts notwendig seien. Dies, nachdem die Schweiz an der Ausarbeitung des Dokuments massgeblich beteiligt war.

Zahlreiche parlamentarische Vorstösse haben nun dazu geführt, dass der Entscheid verschoben wurde. Die beiden Räte verlangen vom Bundesrat, dass die Bundesversammlung über die Unterstützung des Pakts beschliessen kann.

Sichere, geordnete und reguläre Migration

Die UNO-Generalversammlung hat den Pakt im Jahr 2018 verhandelt. Die Schweiz unterstützte den Verhandlungsprozess zum Pakt massgeblich. Jürg Lauber, Chef der Mission der Schweiz bei der UNO, leitete als Ko-Fazilitator die Verhandlungen. Am 10. Dezember 2018 wurde der Pakt in Marrakesch verabschiedet. Er verfolgt das Ziel, die Zusammenarbeit aller Staaten im Bereich der Migration zu stärken. Dadurch soll auch die irreguläre Migration eingedämmt werden.

Umfassende Massnahmen

Ein genauerer Blick auf das Dokument zeigt, dass der Pakt ein umfassendes Massnahmenpaket definiert. Dadurch soll Migration grenzübergreifend “geordnet” werden – von Regulierung ist explizit nicht die Rede. Zu den Massnahmen gehören unter anderem die Stärkung der Hilfe vor Ort, Massnahmen gegen den Handel mit und Schmuggel von Menschen, die Sicherung der Grenzen, die Verwirklichung der Menschenrechte, die Rückführung und Reintegration in den Heimatstaat sowie die Integration im Gastland. Personen, die unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonventionen fallen, sind vom Pakt explizit ausgeschlossen. Für diese wird momentan ein separater Pakt ausgehandelt.

Rechtlich nicht verbindlich, aber wichtiges politisches Engagement

Beim Pakt handelt es sich um ein rechtlich nicht verbindliches Dokument. Dies im Gegensatz zu völkerrechtlichen Verträgen wie der Europäischen Konvention der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention, welche Rechte von Individuen festhalten. Mit der Verabschiedung des Paktes erklären die Staaten lediglich die Zustimmung zum dessen Inhalt, ohne dass dieser Individuen neue Rechte und entsprechende Rekursmöglichkeiten zugesteht.

Politisch hat der Bericht indes grosses Gewicht. Er definiert zehn Leitprinzipien und 23 Ziele. Für jedes Ziel wurden zudem freiwillige Umsetzungsinstrumente identifiziert. Mit der Zustimmung zum Pakt bekennen sich die Staaten zu den Leitprinzipien und Zielen. Jeder Staat kann selbst entscheiden, welche Instrumente er umsetzt. Zudem wird im Pakt ausdrücklich festgehalten, dass die Staaten weiterhin eigene, nationale Migrationspolitiken festlegen und Migration regulieren können.

Massnahmen können einen besseren Schutz der Menschenrechte von Migranten/-innen bewirken

Wie das Büro der Hochkommissarin für Menschenrechte (OHCHR) in einer informellen Analyse des Pakts aus menschenrechtlicher Sicht festhält, werden im Pakt Herausforderungen von globalen Migrationsbewegungen angegangen und dadurch zu einem besseren Schutz bestehender Menschenrechte von Menschen, die ihren Heimatstaat verlassen, beigetragen. Es werden folglich keine neuen Rechte postuliert. Die Staaten bekräftigen jedoch ihr Engagement, bestehende Rechte umzusetzen. Zu diesen Rechten gehören beispielsweise das Verbot, eine Person in einen Staat zurückzuführen, in dem ihr Folter oder andere Formen grausamer und unmenschlicher Behandlung drohen (Non-Refoulement-Gebot), keine Inhaftierung von Migranten/-innen ausser im Ausnahmefall, den Schutz von Migranten/-innen in verletzlichen Situationen und das Diskriminierungsverbot.

Keine grösseren Anpassungen notwendig

Der Medienmitteilung des Bundesrates ist zu entnehmen, dass die Analyse der interdepartementalen IMZ-Struktur (internationale Migrationszusammenarbeit) ergeben hat, dass der Pakt den Interessen und der Migrationspolitik der Schweiz entspräche. Die Schweiz setze die Empfehlungen in den verschiedenen Politikbereichen bereits um. Bei einzelnen Instrumenten zur Umsetzung des Pakts seien jedoch Präzisierungen notwendig, um die politischen Auswirkungen im Detail zu klären. Insgesamt sei eine Stärkung der globalen Kooperation im Migrationsbereich im Interesse der Schweiz.

Frontalopposition der SVP

Bereits die Ankündigung vom 14. September 2018 hatte eine Protestwelle seitens der Rats-Rechten ausgelöst. In der Fragestunde des Nationalrats bombardierten SVP-Nationalräte den Bundesrat regelrecht mit Fragen.

Noch während der Herbstsession reichten mehrere SVP-Parlamentarier/innen Interpellationen ein, in denen sie den Bundesrat zur detaillierten Analyse der Auswirkungen in der Schweiz aufforderten. So wollte Nationalrat Andreas Glarner (AG/SVP) wissen, ob «Medien und Internetportale hinsichtlich ihrer Berichterstattung über Migranten überwacht werden und staatliche Fördergelder bei einseitiger Berichterstattung eingestellt werden sollen» (18.3842), und ob der Familiennachzug weiter vereinfacht, Informationsveranstaltungen und Sprachkurse in Herkunftsländern organisiert und das Strafgesetz revidiert würden (18.3862). Nationalrat Michaël Buffat (VD/SVP) wiederum wollte Auskunft darüber erhalten, ob «für alleinerziehende Migrantenfrauen spezielle für sie zugeschnittene Bankkonten geschaffen werden», ob Migranten/-innen «vereinfacht Kredite für Geschäftsgründungen erhalten sollen» und ob «es Arbeitsvermittlern verboten werden soll, von Migranten Vermittlungsprovisionen zu verlangen» (18.3863). Nationalrat Albert Rösti (BE/SVP) fragte, ob «Ausschaffungshaft verboten werden soll» (18.3840).

Nationalrat Thomas Aeschi (ZG/SVP) und Ständerat Hannes Germann (SH/SVP) gingen noch einen Schritt weiter, indem sie in zwei exakt gleich lautenden Motionen den Bundesrat aufforderten, auf eine «Unterzeichnung» des Pakts «abschliessend zu verzichten und die Führungsrolle der Schweiz im weiteren Prozess aufzugeben» (18.3838 und 18.3935). Eine «Unterzeichnung» würde gemäss Aeschi Artikel 121a Absatz 4 der Bundesverfassung widersprechen, wonach keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden dürfen, die den Bestimmungen über die eigenständige Steuerung der Zuwanderung zuwiderlaufen.

Die Kommissionen schalten sich ein

Die Frontalopposition der SVP zeigte Wirkung: Plötzlich äusserten sich auch die CVP und die FDP kritisch zum Pakt. Doris Fiala, FDP, liess verlauten: «Wir dürfen den Pakt in dieser Form nicht unterzeichnen.»

Die Unterstützung der CVP und der FDP erlaubte es den diversen parlamentarischen Kommissionen, Motionen (18.4103, 18.4106 und 18.4093) einzureichen, in denen sie vom Bundesrat verlangen, den Zustimmungsentscheid dem Parlament zu unterbreiten. Die Motionen begründeten sie damit, dass der Pakt zwar rechtlich nicht bindend, jedoch politisch verpflichtend sei, weshalb die Zustimmung zu einem späteren Zeitpunkt Gesetzesanpassungen zur Folge haben könnte. Die Bundesversammlung müsse folglich in den Entscheid eingebunden werden.

Das Parlament entscheidet sich für eine Zwischenlösung

Schlussendlich entschied sich das Parlament weder für noch gegen den Pakt. Während beide Räte verlangten, dass der Zustimmungsentscheid der Bundesversammlung unterbreitet wird (Motionen 18.4103, 18.4106 und 18.4093), lehnten sie den Antrag ab, auf die Zustimmung abschliessend zu verzichten (Motionen 18.3838 und 18.3935).

Angesichts der anhaltenden Debatten und der offenen Vorstösse hatte der Bundesrat bereits vor Beginn der Wintersession entschieden, am Treffen der Staats- und Regierungschef in Marrakesch, anlässlich dessen der UNO-Migrationspakt verabschiedet wurde, nicht teilzunehmen. Er betonte jedoch, der Entscheid sei nur aufgeschoben. Es wird sich nun zeigen, welche Kräfte die Oberhand gewinnen werden und welche Position die Mitteparteien schlussendlich einnehmen.

Die Linke äussert sich zunehmend deutlich

Um die Unterstützer/innen des Paktes bleibt es relativ ruhig. Erst langsam beginnen sie sich zu mobilisieren. Die SP und die Grünen reagieren auf die Vorwürfe der bürgerlichen Parteien mit Konsternation: «Die rechte Aufregung um den Pakt ist reines Schattenboxen», hielt Nationalrat Balthasar Glättli (ZH/G) gegenüber dem Blick fest. Und Nationalrat Fabian Molina (ZH/SP) führte in einer Analyse auf der Website der SP aus, dass der Pakt weder «globale Freizügigkeit» noch Medienzensur einführe: «Das einzige, was als Massnahme vorgeschlagen wird, ist ein Stopp von staatlichen Subventionen für Medien, die systematisch Intoleranz, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung fördern. Das ist heute schon so.»

Migration ist eine globale Realität

Auch die Grünliberale Partei (glp) hat ihre Unterstützung des Paktes bekanntgegeben: «Die Migration ist eines der grossen Themen unserer Zeit und kann letztlich nur auf internationaler Ebene und in gegenseitiger Kooperation wirksam angegangen werden», sagte Fraktionspräsidentin Tiana Moser (ZH/GLP). Damit drückt sie das aus, was nüchtern immer wieder als Hauptmotivation für den Pakt angegeben wird: Migration ist unvermeidlich. Wir leben in einer globalisierten Welt. Migration kann nicht verhindert werden. Die Staaten können nur versuchen sicherzustellen, dass Migration sicher, geordnet und regulär ist.

Migration ist grösstenteils regulär

Betreffend den Vorwurf, der Pakt verherrliche Migration und fördere irreguläre Migrationsbewegung, sagte Botschafter Jürg Lauber in einem Interview mit Radio oder Fernsehen SRF: «Ich erinnere daran, dass rund 90 Prozent der internationalen Migration ordentlich, regulär und sicher sind. Die Leute ziehen in andere Länder, um zur Schule zu gehen, um zu arbeiten.»

UNO-Migrationspakt postuliert keine neuen Rechte

Eduard Gnesa, Migrationsexperte und ehemaliger Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), betont, dass der Pakt keine neuen Rechte für Migrantinnen und Migranten definiere, sondern Ziele und mögliche Massnahmen. In einem Interview in der NZZ stellt er klar, dass der Pakt kein Recht auf globale Bewegungsfreiheit postuliere. Nichtsdestotrotz werde der Pakt nun von Kritikern/-innen dazu benutzt, «Ängste zu schüren».

Kommentar

Der Entscheid der Exekutive, nicht am Treffen der Staats- und Regierungschefs in Marrakesch teilzunehmen und damit dem Pakt vorläufig nicht zuzustimmen, ist sehr bedauerlich. Sowohl innen- als auch aussenpolitisch sendet sie damit ein negatives Signal aus, welches die Bemühungen um ein international koordiniertes Vorgehen torpedieren. Angesichts der polemischen Stellungnahmen ist eine Versachlichung der Debatte dringend notwendig.

Allerdings erstaunt die Einschätzung der Landesregierung, für die Schweiz bestehe innenpolitisch kein Handlungsbedarf. Auch wenn der Pakt rechtlich nicht verbindlich ist und jeder Staat entscheiden kann, welche der vorgeschlagenen Instrumente er umsetzen möchte, sollte die Unterstützung des Paktes die Schweizer Behörden dazu anregen, ihre eigenen Politiken und Praktiken zu überprüfen - insbesondere jene, die völkerrechtlichen Verpflichtungen unterliegen. Gerade hinsichtlich der Ausschaffungshaft für Minderjährige ab 15 Jahren sind dringend Anpassungen notwendig, und der Bundesrat sollte sich nicht auf einem Vorbehalt zum Pakt ausruhen. Auch hinsichtlich des Aufenthaltrechts von Opfern von Menschenhandel sind Verbesserrungen notwendig.

Entgegen der Behauptungen der Gegner/innen handelt es sich beim Pakt nicht um einen Blankocheck für globale Niederlassungsfreiheit, sondern um einen pragmatischen Kompromiss. Nichtregierungsorganisationen hätten sich weitergehende Rechte für Migranten/-innen gewünscht. So setzte sich beispielsweise Amnesty International während des gesamten Verhandlungsprozesses für ein Verbot der Inhaftierung von Minderjährigen ein. Zudem sei zu befürchten, dass die Staaten aufgrund der fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit nur zögerlich Massnahmen treffen werden.

Der Vorwurf, der Pakt auferlege den Gaststaaten unverhältnismässig viel Verantwortung, ist ebenfalls unberechtigt. Erstens kann die Staatengemeinschaft nicht in Herkunfts-, Transit- und Zielländer aufgeteilt werden, weil die Staaten gegenüber von verschiedenen Migranten/-innen unterschiedliche Funktionen übernehmen. Zweitens betreffen viele der genannten Massnahmen jenen Staat, aus dem die betreffenden Migranten/-innen stammen. Beispiele sind die Reintegration von rückkehrenden Personen, vorbereitende Programme und die Registrierung von Kindern, die ausserhalb des Heimatlandes ihrer Eltern geboren wurden.

Aus menschenrechtlicher Perspektive ist eine Untersütztung des Pakts trotz Schwächen zentral. Dieser hat das Potential, den Schutz bestehender Rechte von Migranten/-innen durch proaktive Massnahmen zu stärken. Die globale Dimension der Migrationsbewegungen bedingt ein koordiniertes Vorgehen der Staatengemeinschaft, welches die Schweiz dringend mittragen sollte.