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Leistungssistierungen unterwandern Recht auf Gesundheit

30.03.2010

Der Nationalrat hatte als Erstrat in der Herbstsession 2009 mit nur einer Gegenstimme einer Revision des Krankenversicherungsgesetzes (Art. 64a KVG)  zugestimmt, womit Leistungssistierungen bei säumigen Prämienzahler nicht mehr zulässigen sein sollen. Bei Nichtbezahlung haben die Kantone gemäss der Vorlage 85 Prozent der Forderungen der Krankenversicherer zu übernehmen. Sodann wird bestimmt, dass die Kantone die Beiträge für die Verbilligung der Krankenkassenprämien direkt an die Versicherer bezahlen statt an die Versicherten (Anpassung von Art. 65 KVG). Auf Antrag von Toni Bortoluzzi (SVP, ZH) wurde zusätzlich eine Bestimmung in das Gesetz aufgenommen, welche es den Kantonen auch zukünftig erlauben wird, Personen, die ihrer Prämienpflicht nicht nachkommen, auf einer Liste zu erfassen (neu Art. 64 a Abs. 6bis KVG). Der Ständerat hat in der Wintersession 2009 die Vorlage mit einigen Modifikationen ebenfalls genehmigt. Nach dem Differenzbereinigungsverfahren haben die Eidg. Räte die gesetzlichen Anpassungen in der Frühlingssession 2010 verabschiedet.

Worum geht es

Seit 1996 ist die Krankenversicherung in der Schweiz nach einem Volksentscheid obligatorisch. Endlich war nun auch einkommensschwachen Personen und Sozialhilfebezügern der Zugang zu medizinischen Leistungen garantiert. Seit 2006 sorgen Kantone und Krankenkassen mit der Umsetzung einer neuen Bestimmung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) jedoch dafür, dass Menschen erneut auf medizinische Leistungen verzichten müssen, weil sie nicht zahlungsfähig sind. Diese Praxis unterwandert das Obligatorium und verwehrt armutsbetroffenen Menschen das Recht auf Gesundheit. Dabei hat sich die Schweiz unter anderem mit der Ratifizierung internationaler Menschenrechtsverträge, wie etwa dem UNO-Pakt I (Art 12), für diskriminierungsfreie Zugänglichkeit zu den vorhandenen Gesundheitseinrichtungen verpflichtet.

Im Jahr 2006 hat der Gesetzgeber das KVG um den Artikel 64a erweitert. Dieser bestimmt, dass die Kassen ihre Leistungen sperren können, wenn eine versicherte Person ihre Prämien oder Kostenbeteiligungen (Selbstbehalt, Franchise) trotz Mahnung und Einleitung des Betreibungverfahrens nicht bezahlt. Der Wohnkanton des Zahlungssäumigen muss darüber von der verantwortlichen Krankenkasse informiert werden. Dann ist einzig die notfallmässige Behandlung gesichert, da die Ärzte und Spitäler von Gesetzes wegen dazu verpflichtet sind.

Working Poor und Chronisch-Kranke besonders leidtragend

Der Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer, Santésuisse, schätzt, dass rund 120'000 Personen von einem Leistungsaufschub betroffen sind. Viele davon sind einkommensschwache Personen und nicht, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, zahlungsunwillige Versicherte. Menschen, die keinen Anspruch auf öffentliche Unterstützung haben und nur über ein geringes Einkommen verfügen, leiden besonders unter der neuen Regelung. Das Problem zeigt sich meist langfristig: Wie die Schuldenberatung «Plusminus» in Basel erläutert, könnten solche Personen (z.B. Working Poor oder geschiedene Männer mit Unterhaltspflichten) ihre Schulden nicht tilgen und erhalten so auf Dauer keine Leistungsbeiträge mehr von den Krankenkassen. 

Unter der Praxis leiden vor allem auch Chronisch-Kranke. Diese seien in besonderem Masse bestraft, schreibt Santésuisse. Bestimmte Leistungserbringer wie Apotheken oder Hausärzte weigerten sich, vom Leistungsstopp betroffenen chronischkranken Menschen Medikamente abzugeben. Sie fürchteten, am Ende die Rechnungen selbst bezahlen zu müssen. So wird diesen Patienten etwa der Zugang zu dringend benötigten Schmerzmedikamenten verschlossen. Diese Situation stürze die Ärzte und Apotheker oftmals in ein Dilemma, schreibt die Handelszeitung in einem Bericht vom 9. Juli 2008.

Verantwortung liegt bei den Kantonen

Bis zur Gesetzesänderung von 1996 durfte die Leistung vom Versicherer erst sistiert werden, wenn ein Verlustschein vorlag. Dieser wurde dann von der öffentlichen Hand übernommen, womit die Leistungssperre bereits wieder aufgehoben wurde. Mit der heutigen Gesetzeslage können die Leistungen während des Betreibungsverfahrens – und damit viel früher – eingestellt werden. Dies führt dazu, dass sich die betroffenen Personen unter Umständen während Monaten oder Jahren in einer sehr schwierigen Situation befinden.

Auch die Kantone haben diese Problematik erkannt. Einige haben mit den Krankenversicherern inzwischen Vereinbarungen getroffen: Diese Kantone bürgen für die Zahlung der geschuldeten Prämienzahlungen, im Gegenzug verzichten die Kassen auf die Leistungssistierung. Andere Kantone, wie beispielsweise Aargau und Solothurn, wehren sich grundsätzlich gegen die Kostenübernahme von säumigen Prämienzahlenden. Für ein sehr heikles Vorgehen hat sich der Kanton Thurgau entschieden und im November 2007 eine schwarze Liste eingeführt, welche den Thurgauer Ärzten, Spitälern und Apothekern anzeigt, ob ein Patient mit einer Leistungssperre belegt wurde.

Gesamtschweizerische Lösung angestrebt

Auf politischer Ebene gab es verschiedene Anstrengungen, um das Problem der Umsetzung von Art. 64a KVG zu lösen. Parlamentarier/innen haben in den Jahren 2006 bis 2008 mehrere Vorstösse dazu eingereicht. Nun ist endlich Bewegung in die Sache gekommen: Santésuisse und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) haben dem Parlament Ende Oktober 2008 einen möglichen Lösungsvorschlag unterbreitet. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) hat mit Datum vom 25. März 2009 eine entsprechende Initiative eingereicht.