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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

02.03.2022

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sieht ein Durchsetzungsverfahren vor, das es einem Individuum sowie Personengruppen und Staaten erlaubt, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg eine Beschwerde wegen Verletzung der EMRK und/oder ihrer Zusatzprotokolle durch einen Vertragsstaat zu erheben. Der Gerichtshof wurde 1959 in Strassburg von den Mitgliedstaaten des Europarats errichtet. Seit 1998 ist der EGMR ein ständig tagender Gerichtshof.

Organisation des EGMR

Bis Ende Oktober 1998 wurden Beschwerden wegen Verletzung der EMRK und ihren Zusatzprotokollen hauptsächlich von der Europäischen Kommission für Menschenrechte geprüft. Über zulässige Beschwerden erstattete sie Bericht an das Minister*innenkomitee. Die Staaten waren frei, daneben auch die Zuständigkeit des Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte anzuerkennen.

Seit dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls Nr. 11 über die Umgestaltung des durch die Konvention eingeführten Kontrollmechanismus entscheidet nun immer und ausschliesslich der ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Für die Durchsetzung von dessen Urteilen ist weiterhin das Minister*innenkomitee des Europarates zuständig.

Zusammensetzung des EGMR

Der EGMR ist aus vollamtlichen Richter*innen zusammengesetzt und in vier Sektionen aufgeteilt; je nach Bedeutung des Falles entscheidet die Grosse Kammer in 17er-, die Kleine Kammer in 7er-Besetzung oder ein Ausschuss von drei Richter*innen. Mit dem Zusatzprotokoll Nr. 14 wurde das Amt des*der Einzelrichter*in eingeführt, welche*r offensichtlich unzulässige Individualbeschwerden endgültig abweisen kann. Diese Neuerung diente der Entlastung des Gerichtshofes.

Der EGMR zählt entsprechend der Zahl an Vertragsparteien zurzeit 47 Richter*innen. Sie werden von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates aus einer Liste von drei Kandidierenden gewählt, die vom betreffenden Staat vorgeschlagen werden. Die gewählten Richter*innen selbst sind jedoch unabhängig; sie vertreten nicht einen Staat. Sie werden für eine einmalige Amtsperiode von neun Jahren gewählt und dürfen gemäss dem Zusatzprotokoll Nr. 15 zum Zeitpunkt, an dem die Kandidaturen bei der parlamentarischen Versammlung eingereicht werden, nicht älter als 65 Jahre alt sein.

Am 26. Januar 2021 wurde Bundesrichter Andreas Zünd (SP) von der parlamentarischen Versammlung des Europarates zum Nachfolger der Schweizer Richterin Helen Keller gewählt. Mit Antoine Favre, dem ersten Schweizer Richter in Strassburg überhaupt, ist Zünd erst der zweite Bundesrichter, welcher die Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertritt. Für Liechtenstein amtet seit 1. September 2015 mit Carlo Ranzoni erneut ebenfalls ein Schweizer (sein Vorgänger war Mark Villiger).

Arbeitsweise des EGMR

Der Gerichtshof kann die Verfahrensabläufe zu einem grossen Teil selbst bestimmen. Dazu gibt er sich die «Rules of Court». Die EMRK gibt nur den Rahmen vor, indem sie die Kompetenzen der einzelnen Formationen (s. oben unter «Zusammensetzung») festlegt. Traditionell wird über die Zulässigkeit und die sachliche Begründetheit einer Beschwerde getrennt entschieden. Eine Entscheidung zu beiden Punkten gleichzeitig war früher die Ausnahme, seit dem 14. Zusatzprotokoll jedoch zumindest im Bereich der etablierten Rechtsprechung die Regel.

Neu kann auch ein Ausschuss von drei Richter*innen endgültig über eine Sache entscheiden, allerdings nur bei Einstimmigkeit. Bei Uneinigkeit wird die Sache an die kleine Kammer überwiesen. Deren Entscheide können wiederum innerhalb von 3 Monaten an die Grosse Kammer weitergezogen werden, die dann nochmals in der Sache entscheidet. Die kleine Kammer kann einen Fall zur Entscheidung auch direkt der Grossen Kammer überweisen, wenn sich eine schwierige Auslegungsfrage oder eine Änderung der Rechtsprechung abzeichnet. Seit Inkrafttreten des Zusatzprotokolls Nr. 15 können die Streitparteien dies nicht mehr mittels Einspruch verhindern. Damit entfällt seit 2021 die Möglichkeit, zuerst einen Entscheid der kleinen Kammer zu verlangen, um sich den Beschwerdeweg an die grosse Kammer offen zu halten.

Umsetzung der Urteile durch das Minister*innenkomitee

Urteile des EGMR sind rechtlich verbindlich, d.h. sie müssen von den Staaten respektiert und umgesetzt werden. Dabei steht dem Gerichtshof jedoch keine «Europa-Regierung» zur Verfügung. Vielmehr ist mit dem Minister*innenkomitee des Europarates eine politische Instanz für die Überwachung der Urteilsumsetzung verantwortlich. Dieses hält viermal jährlich eine Sitzung ab, in der es die Umsetzung der Urteile bespricht.

Die betroffenen Staaten müssen in sogenannten «action reports» über die Urteilsumsetzung Rechenschaft ablegen. Ist das Minister*innenkomitee zufrieden, erlässt es eine «final resolution», die den Fall abschliesst. Ist es nicht zufrieden, stellt es die Nichtumsetzung formell fest und fordert den Staat auf, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Dieses relativ schwache Druckmittel wurde mit dem 14. Zusatzprotokoll durch ein Versäumnisverfahren ergänzt. Jedoch respektiert der Grossteil der Staaten die Urteile – zumindest auf formeller Ebene – in den allermeisten Fällen. Nur wenige Urteile werden, zumeist aus innenpolitischen Gründen, offen kritisiert. Auch strukturelle Probleme können schliesslich die Urteilsumsetzung erschweren.

Die Arbeit des Gerichtshofes hat Wesentliches zu einem demokratischen Europa beigetragen, in welchem die Menschenrechte und Grundfreiheiten einen hohen Stellenwert geniessen. Ebenso hatte sie eine Vereinheitlichung der Standards im Bereich der Rechte der europäischen Wohnbevölkerung zur Folge. Viele grundlegende Urteile, mit welchen Staaten verurteilt wurden, haben zu Änderungen der Gesetzgebung und des Umgangs der Mitgliedstaaten mit den Menschenrechten geführt.

Überlastung des EGMR

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR steht regelmässig wegen der grossen Zahl hängiger Beschwerden in der Kritik. Ende 2021 waren über 70'000 Verfahren hängig. Dieser Pendenzenberg ist insbesondere auf die Zunahme an Beschwerden in den letzten Jahren und die relativ bescheidenen personellen Ressourcen zurückzuführen. Um die Anzahl der hängigen Verfahren zu reduzieren, wurden im 14. Und 15. Zusatzprotokoll Massnahmen festgeschrieben, welche den Zugang zum EGMR erschweren. Mit dem 14. Zusatzprotokoll wurden im Jahr 2010 Werkzeuge zur effizienteren und rascheren Zurückweisung unzulässiger Beschwerden eingeführt. So hat der Gerichtshof nun die Möglichkeit, eine Beschwerde abzuweisen, wenn die beschwerdeführende Person keinen «erheblichen Nachteil» erlitten hat. Weil das Zusatzprotokoll über mehrere Jahre von Russland blockiert wurde, hat der Gerichtshof nebenbei seine Rechtsprechung angepasst und neue Verfahren, darunter etwa das Piloturteil-Verfahren, entwickelt.

Mit Inkrafttreten des 15. Zusatzprotokolls im Jahr 2021 wurde weiter die Beschwerdefrist von sechs auf vier Monate verkürzt. Ausserdem können die Richter*innen Fälle ohne «erheblichen Nachteil» nun auch ohne weitere Prüfung zurückweisen, wenn nationale Gerichte den Fall nicht ordentlich geprüft haben. Diese Neuerung könnte für Personen aus Staaten ohne ordentlichen Rechtsschutz jedoch eine Benachteiligung darstellen. Mit dem 15. Zusatzprotokoll wurde ausserdem das Prinzip der Subsidiarität ausdrücklich in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Subsidiarität bedeutet, dass in erster Linie die Vertragsstaaten für die Einhaltung und Umsetzung der EMRK verantwortlich sind und ihnen dabei ein Ermessensspielraum zusteht. Die Ergänzung der Präambel nimmt Grundsätze auf, die der Gerichtshof bereits in seiner Rechtsprechung konkretisiert hat, jedoch nun erstmals ausdrücklich in der Konvention erwähnt werden. Das verdeutlich die Tendenz des Gerichtshofes, die Ausgestaltung der Menschenrechte vermehrt den nationalen Gerichten zu überlassen.

Staatenbeschwerden vor dem EGMR

Das EMRK-System eröffnet nach Artikel 33 EMRK auch den Staaten die Möglichkeit, einen anderen Staat wegen Verletzungen der EMRK vor dem Gerichtshof zu verklagen. Im Unterschied zur Individualbeschwerde wird bei der Staatenbeschwerde nicht verlangt, dass der Klägerstaat betroffen ist, d.h. der Staat muss nicht eigene Rechte oder solche eigener Staatsangehöriger geltend machen. Sie wird nur selten ergriffen, ihre politische Bedeutung ist dafür umso grösser.