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Verhüllungsverbot

Verhüllungsverbote gefährden die Meinungs- und Versammlungsfreiheit

12.04.2019

Mit Urteil vom 20. September 2018 entschied das Bundesgericht, dass die Ausführungsgesetze zum Tessiner Verhüllungsverbot mit der Bundesverfassung unvereinbar sind. Diese würden die Meinungs-, Versammlungs-, sowie die Wirtschaftsfreiheit verletzen.

Aufgrund einer Beschwerde von zwei Privatpersonen hatte das Bundesgericht über die Verfassungsmässigkeit des Tessiner Gesetzes über die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum (LDiss/TI), des Gesetzes über die öffentliche Ordnung (LOrP) und des dazugehörigen Reglements (ROrP/TI) zu befinden (1C_211/2016, 1C_212/2016). Das Legislativpaket war das Ergebnis der am 22. September 2013 durch das Tessiner Stimmvolk abgesegneten Verfassungsänderung, anhand welcher die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum mit wenigen Ausnahmen verboten wurde.

Dem Bundesgerichtsurteil zu den Tessiner Ausführungsgesetzen kommt in Anbetracht dessen, dass in absehbarer Zeit über eine nationale Volksinitiative zur Einführung eines Verhüllungsverbots abgestimmt wird, grosse Bedeutung zu. Dies, weil die richterlichen Erläuterungen zu den kantonalen Rechtstexten darauf hinweisen, dass diese vordergründig auf die islamische Vollverschleierung gerichtete Volksinitiative auch Grundrechte verletzen könnte, die keine religiöse Dimension aufweisen.

Rechtsprechung von 1991

Die Bundesrichter/innen kamen gestützt auf die bisherige Rechtsprechung in ihrem Urteil vom September 2018 zum Schluss, dass die Tessiner Gesetze unverhältnismässig seien und für eine grundrechtskonforme Auslegung verschiedener Ergänzungen bedürfen.

Bereits 1991 hatte das Bundesgericht ein gesetzliches Verhüllungsverbot im Kanton Basel-Stadt auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu prüfen. Damals ging es um ein Gesetz, welches das Verbot der Verhüllung anlässlich bewilligungspflichtiger Versammlungen, Demonstrationen und sonstigen Menschenansammlungen zum Ziel hatte. Die Richter/innen am Bundesgericht kamen in ihrem damaligen Urteil zum Schluss, dass der fragliche Gesetzestext zwar sehr vage formuliert sei, er jedoch aufgrund einer integrierten Ausnahmeregelung grundrechtskonform ausgelegt und umgesetzt werden könne. Das Verbot der Unkenntlichmachung gelte gemäss dem Gesetzeswortlaut nämlich nicht absolut und es bestünde für die Behörden die Möglichkeit, legitime Gründe für eine Verhüllung festzustellen. Aufgrund einer Stellungnahme des Regierungsrates des Kantons Basel-Stadt befand des Bundesgericht zudem, dass die kantonalen Behörden durchaus gewillt seien, verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen und solche Ausnahmebewilligungen auch tatsächlich zu gewähren.

Das Tessiner Gesetz: zu strikt und unvollständig

Im Fall der Tessiner Gesetze sei eine verfassungskonforme Auslegung gemäss Bundesgericht hingegen nicht möglich, da es im Gesetzestext an ausreichenden Ausnahmetatbeständen fehle. Das Gesichtsverhüllungsverbot erweise sich hinsichtlich der Versammlungs- (Art. 22 BV), Meinungs- (Art. 16 BV) und Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) mit den abschliessend formulierten Ausnahmeregelungen als unverhältnismässig.

Damit die genannten Grundrechte gewahrt werden könnten, müsse der Grosse Rat des Kantons Tessin entsprechende Ausnahmeregelungen für Teilnehmende politischer Kundgebungen, sowie die Möglichkeit der Gesichtsverhüllung für gewerbliche oder werbende Veranstaltungen schaffen. 

Der Entscheid des Bundesgerichts ist für die Tessiner Exekutive ein Rückschlag. Anlässlich der Beschwerde gegen die Tessiner Gesetze hatte sie nämlich rechtfertigend vorgebracht, dass diese «im Kontext der allgemeinen Unsicherheit in der Bevölkerung» zu lesen seien. In einer Pressemitteilung vom 16. Januar 2019 hat die Tessiner Regierung nun angekündigt, sich künftig an den Vorgaben des Bundesgerichts zu orientieren. Sie hat im gleichen Zug mitgeteilt, dass sie den Ausnahmenkatalog des betreffenden Gesetzes vervollständigen wird, um ein zu starres und schwer anwendbares Verbot zu vermeiden, welches im Einzelfall zu einer unzulässigen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit führen könnte. Die Verhüllung des Gesichts soll nun im Rahmen von Demonstrationen oder zu kommerziellen oder Werbezwecken ausdrücklich erlaubt werden, solange sie die öffentliche Ordnung und die Sicherheit nicht gefährdet.

Bemerkenswert ist, dass nicht die Änderung der Tessiner Verfassung und damit das Verhüllungsverbot per se als unvereinbar mit der Bundesverfassung gerügt wurden, sondern nur die entsprechenden Ausführungsgesetze. Bereits der Bundesrat hatte durch die Gewährung der Bundesgarantie zur Änderung der Tessinger Verfassung festgestellt, dass ein solches Verbot bundesrechtskonform ausgelegt werden könne. Er berücksichtigte hierbei insbesondere, dass der Initiativtext Ausnahmen erlaube.
Zum gleichen Schluss waren am 5. März 2015 auch der Nationalrat und der Ständerat gekommen. Nichtsdestotrotz hielt der Bundesrat klar fest, dass er ein solches Verbot nicht als sinnvoll erachte, weil nur sehr wenige Personen aus religiösen Gründen ihr Gesicht verhüllen. Zudem sei es bereits heute strafbar, jemanden zum Tragen einer Gesichtsverhüllung zu zwingen (Art. 181 StGB). Der Nationalrat und der Ständerat folgten in der Frühjahressession 2015 der Argumentation des Bundesrates.

Die Religionsfreiheit nicht geprüft

Nicht gerügt hatten die Beschwerdeführer die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV). Wäre das Bundesgericht dazu gekommen, die Tessiner Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit diesem Grundrecht zu prüfen, hätte es sich dabei wohl am Entscheid SAS gegen Frankreich des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahr 2014 orientiert. Damals hatten die Strassburger Richter/innen befunden, dass ein gesetzliches Verhüllungsverbot für den öffentlichen Raum in Frankreich weder die Meinungs- (Art. 10 EMRK) oder die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), noch das Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) verletze.

Im Allgemeinen hätte das Bundesgericht im Fall, dass es besagtes Urteil des Gerichtshofs vergleichsweise beizöge, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Gesichtverhüllung in Frankreich ein verbreitetes Phänomen darstellt. Eine Sachlage, die auf die Schweiz nicht zutrifft. Derartige gesellschaftliche Unterschiede müssten in eine rechtliche Bewertung zwingend miteinfliessen.

Und die nationale Initiative?

Der bundesgerichtliche Entscheid zu den Tessiner Ausführungsgesetzen lässt besonders im Hinblick auf die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» aufhorchen, welche das «Egerkinger Komitee» am 15. September 2017 eingereicht hat. Grössenteils an die Tessiner Initiative angelehnt, strebt dieses nationale Volksbegehren in erster Linie die Gesichtsverhüllung aus religiösen Gründen an. Der Ausnahmekatalog, welcher im dritten Absatz des vorgeschlagenen Verfassungsartikels aufgeführt ist, umfasst jedoch ausschliesslich Gründe der «Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums». Dadurch wäre die Möglichkeit ausgeschlossen, betreffend die Verhüllung für politische Zwecke gesetzliche Ausnahmen zu schaffen. Unter Berücksichtigung des Bundesgerichtsentscheids zu den Tessiner Ausführungsgesetzen kann aus diesem Grund angenommen werden, dass auch der auf nationaler Ebene zur Abstimmung stehende Gesetzesentwurf die Meinungs-, die Versammlungs-, sowie die Wirtschaftsfreiheit verletzt. Generell bestätigt der Entscheid die Stossrichtung des erläuternden Berichts des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, wonach die Initiative des Egerkinger Komitees mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht verhältnismässig ist.

Bereits am 20. Dezember 2017 kündigte der Bundesrat an, ein nationales Verbot der Vollverschleierung zurückzuweisen. Ende Juni 2018 stellte er der Initiative schliesslich einen indirekten Gegenvorschlag mit alternativen Massnahmen gegenüber und schickte die ausgearbeitete Vorlage in die Vernehmlassung. Das Argument der Verhältnismässigkeit wird auch im Rahmen der Diskussion um diesen Gegenvorschlag eine wichtige Rolle spielen.

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Der Entscheid des Bundesgerichts kommt zum richtigen Zeitpunkt, um die Debatte um das Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum in eine andere Richtung zu leiten. Obwohl das Egerkinger Komitee behauptet, mit der Initiative einen Freiheitsbegriff zu verteidigen, mit welchem die Burka als religiöses Symbol nicht zu vereinbaren sei, deutet vieles darauf hin, dass es in Tat und Wahrheit um etwas anderes geht.

Die Gesichtsverhüllung mittels Burka ist in der Schweiz ein seltenes Phänomen, womit einem Verbot keine grosse praktische Bedeutung zukommen würde. Eine Verfassungsänderung im Sinn der nationalen Initiative stellt damit vielmehr auch ein Angriff auf grundrechtliche Garantien dar, welche allen in der Schweiz niedergelassenen Personen zukommen und für die freie Entfaltung und politische Meinungsbildung von grosser Bedeutung sind, namentlich die Meinungs-, die Versammlungs-, sowie die Wirtschaftsfreiheit.

Tatsächlich kaschiert der Kampf gegen den vermeintlichen Vormarsch des Islamismus ein immer vehementeres Vorgehen gegen politischen Aktivismus. Wie auch die beiden Juristen, welche die abstrakte Normenkontrolle der Tessiner Gesetze initiiert hatten, in der WOZ bemerken: «Die Initianten/innen spielen sich zwar gerne als Verteidiger/innen der Freiheit auf; um unsere Freiheit sorgen sie sich jedoch nicht – im Gegenteil: Sie ist ihre Zielscheibe.»