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Kein einheitlicher Rechtsrahmen zum Schutz von Whistleblower*innen

04.08.2021

Die Schweiz ist weit davon entfernt, Whistleblower*innen ausreichend vor Repressalien zu schützen. Zwar hat der Kanton Genf vor kurzem ein Gesetz zum Schutz der Angestellten des öffentlichen Sektors verabschiedet und andere Kantone bereiten ebenfalls entsprechende Gesetzgebungen vor. Die Bundesversammlung hat sich im Jahr 2020 jedoch gegen die Ausarbeitung eines Bundesgesetzes entschieden, welches einheitliche Schutzmechanismen für Hinweisgeber*innen etabliert hätte. Nationale Rahmenbedingungen für einen besseren Schutz von Whistleblower*innen sind für die Wahrung öffentlicher Interessen unerlässlich – und stellen eine Forderung internationaler Gremien dar.

Die Whistleblowing-Meldestelle der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) erfasste im Jahr 2020 eine Rekordzahl von Meldungen. Obwohl der Anstieg von 159% gegenüber 2019 zu einem grossen Teil auf Missbrauchsmeldungen zu Corona-Hilfen zurückzuführen ist, kann die Krise allein den Anstieg nicht vollumfänglich erklären. Seit 2011 das Bundespersonalgesetz revidiert und der Schutz für Whistleblower*innen des Bundespersonals ausgebaut wurde, verzeichnet die Eidgenössische Finanzkontrolle auf ihrer Plattform zur Bekämpfung von Fehlverhalten in der Bundesverwaltung und bundesnahen Organisationen einen stetigen Anstieg von Hinweisen auf Unregelmässigkeiten. Trotzdem gibt es auf Bundesebene nach wie vor keinen gesetzlichen Rahmen, welcher Arbeitnehmende im öffentlichen und privaten Sektor wirksam und konsistent schützt.

Genf: verbesserter Schutz im öffentlichen Sektor

Im Januar 2021 verabschiedete der grosse Rat des Kantons Genf gesetzliche Rahmenbedingungen, welche die Anonymität von Whistleblower*innen innerhalb der kantonalen Verwaltung, des Parlaments, der Justiz, von Universitäten, öffentlich-rechtlichen Institutionen und Gemeindebehörden garantiert. Mit dem neuen Gesetz (Loi sur la protection des lanceurs d’alerte LPLA) konkretisiert das Parlament den Schutz von Whistleblower*innen, welcher bereits in Artikel 26 Absatz 3 der revidierten Kantonsverfassung von 2013 verankert ist.

Das Genfer Whistleblowing-Gesetz garantiert einer Person, die in gutem Glauben und im öffentlichen Interesse Missstände meldet, die vertrauliche Behandlung ihrer Identität (Art. 5. Abs. 1 LPLA) und den Schutz vor beruflichen Nachteilen (Art. 7 und 8 LPLA). Das Gesetz schreibt ausserdem Verpflichtungen für Arbeitgebende im öffentlichen Sektor fest: Einerseits müssen sie Verfahren zur Meldung von Unregelmässigkeiten einführen (Art. 9 LPLA) und andererseits die erforderlichen Massnahmen zur Bekämpfung der gemeldeten Unrechtmässigkeiten erlassen (Art. 6 Abs. 2 LPLA). Während den parlamentarischen Verhandlungen über das Gesetz erwies sich die Einführung des Anonymitätsprinzips als Knackpunkt. Die Genfer Sektion der FDP hat gegen diesen im Gesetz integrierten Grundsatz sogar eine Beschwerde bei der Verfassungskammer des Genfer Kantonsgerichts eingereicht. Die im Gesetzgebungsverfahren befragten Expert*innen und die Leitung der Eidgenössischen Finanzkontrolle EFK betonten allerdings, dass ohne Anonymitätsprinzip keinen effektiven Schutz für Hinweisgeber*innen gewährleisten werden kann.

In einem ähnlichen Ausmass schützt der Kanton Basel-Stadt anhand seines Personalgesetzes Whistleblower*innen, die in öffentlich-rechtlichen Institutionen beschäftigt sind. Andere Kantone schlagen nun denselben Weg ein: Der Kanton Waadt prüft derzeit eine Motion, welche entsprechende Bestimmungen in das Personalgesetz des Kantons Waadt aufnehmen will. Ähnliche Entwicklungen gibt es im Kanton Neuenburg. Die Städte Bern, Winterthur und Zürich haben anonyme Meldesstellen eingeführt.

Whistleblower*innen sind in der Schweiz nach wie vor ungenügend geschützt

Die jüngsten Entwicklungen auf kantonaler und kommunaler Ebene zeugen nicht zuletzt vom fehlenden nationalen Rechtsrahmen zum Schutz von Whistleblower*innen in der Schweiz. Die einzige Norm, welche der Bund diesbezüglich erlassen hat, gilt ausschliesslich für Angestellte der Bundesverwaltung (Art. 22a BPG). Hinweisgeber*innen sind demnach auf nationaler Ebene nicht ausreichend vor missbräuchlichen Kündigungen geschützt: In einem solchen Fall sind Arbeitgeber*innen lediglich zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von maximal sechs Monatsgehältern verpflichtet (Art. 336a Abs.2 OR). Diese Summe stellt für sie keine grosse Abschreckung dar, Mitarbeiter*innen nach einer Whistleblowing-Affäre loszuwerden.

Das eidgenössische Parlament diskutiere im Jahr 2013 eine Gesetzesvorlage, nach welcher neu das Obligationenrecht einen Schutz bei Meldungen von Unregelmässigkeiten am Arbeitsplatz gewähren sollte. Im Jahr 2020 wurde die Vorlage jedoch von der Bundesversammlung abgelehnt, weil sich die beiden Räte nicht einigen konnten: Die Materie sei zu technisch und der Schutz für die Betroffenen zu schwach. Die Geschichte schien über Jahre kein Ende zu finden: Obwohl bereits im Jahr 2005 anhand einer Motion mehr Schutz für Whistleblower*innen gefordert worden war, begannen die parlamentarische Beratungen erst 2013, um dann sieben Jahre später zu scheitern. Dafür erntete die Schweiz scharfe Kritik aus der Zivilgesellschaft.

Demgegenüber begrüsste der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB das Scheitern der Vorlage, da der bundesrätliche Gesetzesentwurf die Situation der Whistleblower*innen nur verschlechtert hätte. Er hätte ihnen lediglich komplizierte Vorgaben gemacht, ohne dabei ihren Kündigungsschutz zu verbessern. Unter dem Titel der Loyalitätspflichten von Arbeitnehmenden gegenüber ihren Arbeitgeber*innen wäre der Whistleblowing-Schutz im Obligationenrecht zudem fehlplatziert gewesen. Ein griffiger Schutz gegen missbräuchliche Kündigungen sei für die Hinweisgeber*innen massgebend.

Lücken im öffentlichen und privaten Sektor

Die Folgen der fehlenden Schutzmechanismen sind gravierend: Whistleblower*innen werden nicht von Entlassungen, Mobbing oder Diskriminierung verschont. Zudem besteht kein Schutz vor arbeitsinternen Repressalien.

Im Jahr 2019 haben zwei langjährige Mitarbeiterinnen der Genfer Verwaltung den kantonalen Rechnungshof, welcher für die Entgegennahme dieser Art von Meldungen zuständig ist, auf mögliche Unregelmässigkeiten in ihrer Dienststelle aufmerksam gemacht. Obwohl sie die Vertraulichkeit des Verfahrens gewahrt hatten und mit dem Problem nicht direkt an die Öffentlichkeit getreten waren, wurden sie wenige Tage später mit sofortiger Wirkung entlassen. Sie bemühen sich zurzeit auf dem Rechtsweg um eine Wiedereinstellung. Aufgrund eines fehlenden nationalen Rechtsrahmens ergibt sich eine klare Benachteiligung für all jene Beamt*innen, welche sich nicht auf ein entsprechendes kantonales Gesetz berufen können.

Noch gravierender ist der Mangel an Standards jedoch im Privatsektor: Obwohl etwa 70 % der grossen Unternehmen über einen Whistleblowing-Schutzmechanismus verfügen, tun dies laut einer Studie der Fachhochschule Graubünden nur 10 % der Schweizer KMU. Allerdings bleiben auch Mitarbeitende multinationaler Unternehmen nicht vor missbräuchlichen Kündigungen aufgrund von Whistleblowing verschont. Der Fall von Yasmine Motarjemi ist ein trauriges Beispiel für das Schicksal, welches Hinweisgeber*innen ereilen kann: Die damalige Expertin für Lebensmittelsicherheit bei Nestlé versuchte ihre Vorgesetzten davon zu überzeugen, eine bestimmte Sorte von Babybiscuits vom Markt zu nehmen. Es war zu zahlreichen Beschwerden aufgrund von Erstickungsgefahr gekommen. Die Vorgesetzten ignorierten die Kritik und Forderungen Motarjemis und demütigten sie zusehends. Sie meldete das Mobbing der Personalabteilung und der Konzernleitung, welche eine fehlerhafte und voreingenommene Untersuchung durchführten. Schliesslich wurde Motarjemi ohne Begründung und fristlos gekündigt.

Die Forderungen der internationalen Gemeinschaft

Als Mitglied des Europarates ist die Schweiz verpflichtet, Personen zu schützen, die bei einer öffentlichen Behörde angestellt sind und eine regelwidrige Tätigkeit am Arbeitsplatz anprangern. Diese Anforderungen wurden in einer Richtlinie der Europäischen Union vom 29. Oktober 2019 (Richtlinie 2019/1937) aufgegriffen, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, einen Mindestschutz für Whistleblower*innen zu gewährleisten. Gemäss dieser Richtlinie besitzen Hinweisgeber*innen, die einen berechtigten Grund zur Annahme haben, dass an ihrem Arbeitsplatz Unregelmässigkeiten vorliegen (Ziff. 32) – und diese intern melden (Ziff. 33) –, ein Recht auf Anonymität (Ziff. 34).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in mehreren Fällen von Whistleblowing entschieden, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) – welcher das Recht auf freie Meinungsäusserung garantiert – die Weitergabe von Informationen und die Meldung von mutmasslich rechtswidrigem Verhalten umfasst. Im Jahr 2011 vertraten die Strassburger Richter*innen im Urteil Heinisch gegen Deutschland die Auffassung, dass öffentlich-rechtliche Arbeitgeber*innen die Meinungsfreiheit ihrer Mitarbeitenden respektieren müssen, wenn diese trotz ihrer Loyalitätspflicht über Unregelmässigkeiten im eigenen Betrieb berichten. Es müssen dazu jedoch mehrere Bedingungen erfüllt sein: Die Person muss in gutem Glauben und im öffentlichen Interesse handeln und darf sich nicht an die Öffentlichkeit wenden – eine Bedingung, die nach Ansicht des Gerichts besonders wichtig ist, um die Loyalitätspflicht der Mitarbeiter*innen zu wahren.

Sowohl der Europarat (Resolution 1729) als auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD (Aktionsplan zur Korruptionsbekämpfung, Schutz von Whistleblower*innen) erkennen die Schutzbedürftigkeit von Whistleblower*innen an, die im privaten Sektor tätig sind. Sie weisen zudem darauf hin, dass ein verbesserter Schutz der Korruptionsbekämpfung und dem Lobbyismus zugutekäme. Schliesslich veröffentlichte die OECD im Jahr 2016 den Bericht «Committing to Effective Whistleblower Protection», in welchem sie die Bedeutung von Whistleblower*innen für den Schutz der Integrität des öffentlichen und privaten Sektors hervorhebt. Ebenso fordert sie die Staaten auf, Standards für einen wirksamen Schutz gegen mögliche Vergeltungsmassnahmen von Vorgesetzten zu erarbeiten.

Als Vertragsstaat des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Korruption hat die Schweiz gemäss Artikel 33 die Pflicht, in ihrer «innerstaatlichen Rechtsordnung geeignete Massnahmen vorzusehen, um Personen, die den zuständigen Behörden in redlicher Absicht und aus hinreichendem Grund Sachverhalte betreffend in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen umschriebene Straftaten mitteilen, vor ungerechtfertigter Behandlung zu schützen.» Unter Berufung auf den fakultativen Charakter dieser Bestimmung hat die Schweiz bis heute jedoch keine Bereitschaft gezeigt, den erforderlichen Schutz für Whistleblower*innen zu gewährleisten.

Ein wirksamer Schutz ist längst fällig

Während in diversen Nachbarländern der Schutz für Whistleblowing gestärkt wird, hinkt die Schweiz in diesem Bereich hinterher. Die Zivilgesellschaft fordert nun die Einrichtung wirksamer Schutzmechanismen gegen missbräuchliche Entlassungen von Whistleblower*innen, einschliesslich der Möglichkeit der Wiedereinstellung. In Frage kommt auch eine Umkehr der Beweislast im Fall von Mobbing, sowie wenn die hinweisgebende Person nachweisen kann, dass ihre Entlassung auf das Whistleblowing zurückzuführen ist. Gemäss dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB müsste der Whistleblowing-Schutz in einer Rahmengesetzgebung oder im Kündigungsschutz des Obligationenrechts aufgenommen werden. Dies würde mit den Empfehlungen des Europarats und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD übereinstimmen.

Dazu ist einerseits eine Harmonisierung der Bestimmungen für die Mitarbeiter*innen des privaten und des öffentlichen Sektors notwendig. Darüber hinaus braucht es unabhängige staatliche Stellen, um denselben effektiven Schutz für alle Arbeitnehmer*innen zu gewährleisten. Diese unabhängigen Stellen müssen in der Lage sein, nach dem Vorbild des Genfer Rechnungshofes und der Bundesfinanzkontrolle Prüfungen durchzuführen und Informationen vertraulich zu verifizieren, wie es von deren Direktor und Fachleuten empfohlen wird.

Bisher hat es die Schweiz verpasst, sich mit dem fehlenden Schutz für Whistleblowing auf ihrem Staatsgebiet auseinanderzusetzen. Es muss dringend gehandelt werden, bevor sich die Kluft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor sowie innerhalb des privaten Sektors weiter vergrössert. Mitarbeiter*inne müssen die Möglichkeit haben, Unregelmässigkeiten anzuprangern, die für die Gemeinschaft von Interesse sind. Whistleblower*innen berichten im Interesse der Allgemeinheit und ermöglichen die Verhinderung oder die Aufdeckung von Fehlern und Schwachstellen in Staaten, Volkswirtschaften sowie politischen und finanziellen Systemen. Während die Genfer Gesetzgebung – im Sinne der Meinungsfreiheit gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention – staatliche Pflichten zum Schutz von Whistleblowing verankert, fehlt es auf nationaler Ebene immer noch an einem einheitlichen Rechtsrahmen.

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