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EGMR: Doppeltes Verfahren bei Verletzung von Strassenverkehrsregeln ist zulässig

06.10.2016

(von Schutzfaktor M übernommen)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Entscheid vom 4. Oktober 2016 einstimmig festgehalten, dass das Schweizer System des doppelten strafrechtlichen sowie administrativen Verfahrens für Strassenverkehrsregelverletzungen konform mit der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, Herr Rivard, ist ein kanadischer Staatsbürger, der in Dullier in der Schweiz wohnt. Am 9. April 2010 geriet er auf der Autobahn A1 in eine Geschwindigkeitskontrolle – mit 132 km/h anstatt der vorgeschriebenen 100 km/h. Der Beschwerdeführer beklagte, dass er in der Folge zwei Mal für die gleiche Tat bestraft wurde.

Das Schweizer Recht sieht bei Strassenverkehrsregelverletzungen ein doppeltes strafrechtliches sowie administratives Verfahren vor. Mit Entscheid vom 6. Juli 2010 hatte das Polizeiamt des Kantons Genf im Strafverfahren eine Busse von 600 Franken ausgesprochen, die der Beschwerdeführer bezahlte. Daraufhin entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Waadt ihm im Administrativverfahren mit Entscheid vom 2. September 2010 den Führerausweis wegen einer mittleren Geschwindigkeitsübertretung für einen Monat. Gegen diesen Entscheid reichte Herr Riva eine Beschwerde beim Kantonsgericht Waadt ein, welches die Beschwerde mit Urteil vom 28. Januar 2011 ablehnte und den Entscheid des Strassenverkehrsamt des Kantons Waadt bestätigte.

Gegen den kantonalen Entscheid erhob Herr Rivard Beschwerde an das Bundesgericht mit der Begründung, dass der Führerausweisentzug, als administrative Massnahme nach der strafrechtlichen Busse, gegen den Grundsatz ne bis in idem (Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK) verstosse. Nach diesem Grundsatz darf von den Behörden eines Staates eine Rechtsverletzung nicht verfolgt oder strafrechtlich bestraft werden, wenn man dafür bereits einmal gebüsst oder verurteilt wurde.

Nach einer Analyse der Rechtsprechung des EGMR zum Grundsatz ne bis in idem, der Auffassung von Schweizer Rechtsprofessoren sowie der Botschaft des Bundesrates zur Revision des Strassenverkehrsgesetzes, lehnte das Bundesgericht die Beschwerde von Herrn Rivard am 26. September 2011 ab. Es bestätigte damit seine Rechtsprechung, nach der das doppelte - strafrechtliche sowie administrative - Verfahren bei Strassenverkehrsregelverletzungen nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstosse.

Zusammenfassung Urteil EGMR

Der Gerichtshof hält einleitend fest, dass dem Entzug des Führerausweises und der strafrechtlichen Busse die gleichen Fakten zugrunde lagen, weshalb der Grundsatz ne bis in idem grundsätzlich anwendbar sei.

Im vorliegenden Falle sei allerdings keine Doppelbestrafung erfolgt, da ein genügend enger inhaltlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen dem administrativen und dem strafrechtlichen Verfahren vorliege, um sie als zwei Aspekte eines einheitlichen Systems zu betrachten. So sei der Entzug des Führerausweises als direkte Konsequenz der strafrechtlichen Verurteilung (gemäss Strassenverkehrsgesetz) anzusehen. Weil es sich nicht um zwei klar abgrenzbare Verfahren handle, sei der Grundsatz ne bis in idem vorliegend nicht verletzt.

Kommentar:

Mit diesem Entscheid bestätigt der Strassburger Gerichtshof die konstante Rechtsprechung des Bundesgerichts. Er hält fest, dass das Nebeneinander von straf- und verwaltungsrechtlichem Verfahren bei einer Verletzung der Strassenverkehrsregeln EMRK-konform ist.

  • Rivard v. Schweiz
    Urteil des EGMR vom 4. Oktober 2016, französisch
  • Rivard v. Schweiz
    Medienmitteilung von Schutzfaktor M vom 4. Oktober 2016 (online nicht mehr verfügbar)