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Monnat gegen die Schweiz

Unverhältnismässiger Eingriff in das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit
(Art. 10 EMRK)

Affaire Monnat contre la Suisse (Beschwerde Nr. 73604/01)
Urteil des EGMR vom 21. September 2006 (pdf, 28 S. in Französisch)

Im März 1997 wurde im Rahmen der Sendung „Temps présent“ der Télévision Suisse Romande (TSR) die zweiteilige Reportage «L’honneur perdu de la Suisse» ausgestrahlt. Darin wird die Haltung der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges kritisch beleuchtet: Die Reportage beginnt mit der Schilderung der Rolle der Schweiz während des 2. WK, so wie sie von der damaligen Bevölkerung wahrgenommen und auch während langen Jahren in den Schulen unterrichtet wurde. Die Schweiz wird darin als mutiges Land dargestellt, das trotz seiner Neutralität immer auf der Seite der Demokratie und somit der Alliierten gestanden habe. Dieser Aussage hält die Reportage die Verurteilungen der schweizerischen Haltung durch bekannte Persönlichkeiten sowie gegensätzliche Einschätzungen von Schweizern entgegen, die während der Kriegszeit gelebt haben. In der Folge beschreibt die Reportage die Nähe der Schweiz bzw. ihrer Repräsentanten zur extremen Rechten sowie deren Versuche einer Annäherung an Deutschland. Abschliessend widmet sich der Bericht dem Antisemitismus in der Schweiz, den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland, der Geldwäsche von Nazi-Geldern sowie der Rolle der schweizerischen Banken und Versicherungen in der Frage der nachrichtenlosen Vermögen. Autor dieser Dokumentation ist der Beschwerdeführer, ein bekannter Journalist.

Im Anschluss an die Ausstrahlung der Reportage reichten zahlreiche Zuschauer Beschwerde bei der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) ein. Diese entschied, dass die Ausstrahlung der Reportage «L’honneur perdu de la Suisse» den in Art. 4 RTVG niedergelegten Grundsatz der Sachgerechtigkeit verletzt habe. Gegen diesen Entscheid erhoben die TSR sowie der Beschwerdeführer Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht. Während das Bundesgericht auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht eintrat, wies es die Beschwerde der TSR ab. Das Bundesgericht betonte, dass nicht der Inhalt der Reportage, sondern vielmehr dessen journalistische Aufbereitung problematisch sei. So habe sich der Autor des Berichtes zum Anwalt einer einzigen These gemacht und alle anderen Standpunkte scharf kritisiert. Für solchen anwaltschaftlichen Journalismus gälten aber besonders strenge Sorgfaltsregeln, die im vorliegenden Fall nicht beachtet worden seien. Da der Autor die Zuschauer nicht darüber aufgeklärt habe, dass die Reportage eine einzelne, bloss mögliche Interpretation der Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland und nicht die unbestrittene Wahrheit darstelle, wies das Bundesgericht die Beschwerde der TSR ab (vgl. hierzu BGer, 21. November 2000, 2A.12/2000 sowie 2A.13/2000). Noch während die Verwaltungsgerichtsbeschwerden beim Bundesgericht hängig waren, wurde das Band der Sendung gerichtlich beschlagnahmt und dessen Vertrieb im In- und Ausland untersagt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befasste sich zunächst mit der Zulässigkeit der Beschwerde und dabei insbesondere mit der Frage der Opfereigenschaft. Soweit sich der Beschwerdeführer über die Unzweckmässigkeit der im RTVG vorgesehenen Programmüberwachung beschwere, fehle dem Beschwerdeführer die Opfereigenschaft, da er sich ganz abstrakt über ein Rechtsregime beschwere. Hingegen sei, so der EGMR, die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers in Bezug auf die Beschlagnahmung der Bänder der Sendung zu bejahen. Denn als Autor der Reportage sei der Beschwerdeführer unmittelbar von der Massnahme betroffen.

Die materiellen Erwägungen des EGMR kreisen um die Frage nach der Notwendigkeit des Eingriffes in das Recht auf freie Meinungsäusserung; das Vorliegen eines Eingriffes sowie das Bestehen einer gesetzlichen Grundlage und eines zulässigen Eingriffszweckes – das Recht der Zuschauer auf objektive und transparente Informationen – waren unbestritten. Der EGMR betont zunächst, dass die Suche nach der historischen Wahrheit zwar integraler Bestandteil des Rechtes auf freie Meinungsäusserung sei, ihm als Gerichtshof jedoch nicht die Rolle eines Schiedsrichters über die Haltung der Schweiz während des 2. WK zukomme. Seine Aufgabe bestehe vielmehr darin, festzustellen, ob die getroffenen Massnahmen zum angestrebten Zweck verhältnismässig seien. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die Ausstrahlung im Rahmen einer breiten öffentlichen Debatte über die Rolle der Schweiz im 2. WK erfolgt sei. Zudem kritisiere die Reportage nicht das Schweizer Volk, sondern vielmehr die Haltung der schweizerischen Repräsentanten während des 2. WK; Kritik an Politikern sei aber in weitergehendem Masse zulässig. Daraus folge, dass den nationalen Gerichten bei der Beurteilung des dringenden sozialen Bedürfnisses für eine Grundrechtseinschränkung nur ein enger Beurteilungsspielraum zukomme. Der Umstand, dass einige unzufriedene Zuschauer gegen die Ausstrahlung der Reportage geklagt hätten, sei noch kein genügender Grund für die Ergreifung von Massnahmen, schütze das Recht auf freie Meinungsäusserung doch auch Ansichten, die schockieren, beunruhigen oder abstossen. Dies gelte auch für historische Debatten in Bereichen, in denen Gewissheit unmöglich ist und die Gegenstand von Diskussionen zwischen Historikern bilden. Zudem sei zu berücksichtigen, dass mehr als fünfzig Jahre seit den fraglichen Ereignissen vergangen seien. Hinzu komme, dass die Reportage im Rahmen der Sendung „Temps présent“ ausgestrahlt worden sei. Diese Sendung geniesse in der Öffentlichkeit einen guten Ruf und es könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie diesen leichtfertig auf Spiel setzen würde. Zudem wäre es kaum möglich gewesen, vom Beschwerdeführer zu verlangen, dass er als Autor der Sendung seine subjektive Meinung, die im Rahmen einer historischen Debatte erfolgt sei und auch von den Zuschauern nicht als unangreifbare geschichtliche Wahrheit verstanden werden konnte, hervorhebe. Daher könne dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden, er hätte journalistische Sorgfaltspflichten verletzt und nicht in gutem Glauben gehandelt. Schliesslich betont der EGMR, dass die Gutheissung der Zuschauerklagen an sich zwar nicht die freie Meinungsäusserung verhindert hätten; sie sei vielmehr insofern einer Zensur ähnlich, als dass der Beschwerdeführer dadurch in Zukunft von ähnlich kritischen Äusserungen abgehalten werden könnte. Im Rahmen einer Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse bestehe die Gefahr, dass eine solche Massnahme Journalisten davon abhalte, einen Beitrag zur öffentlichen Diskussionen zu leisten. Gestützt auf diese Überlegungen kam der EGMR daher zum Schluss, dass die zur Rechtfertigung des Eingriffes in das Recht auf freie Meinungsäusserung herangezogenen Gründe nicht verhältnismässig waren.

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