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Urteil des EGMR: Schweizer Gerichte dürfen Zuständigkeit für Zivilklagen von Folteropfern ablehnen

22.03.2018

(Mehrheitlich von Schutzfaktor M übernommen)

Mit dem Urteil vom 15. März 2018 (Nr. 51357/07) entschied die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überraschend deutlich, dass die Verneinung der Zuständigkeit von Schweizer Gerichten zur Behandlung von zivilrechtlichen Schadenersatzforderungen von ausländischen Folteropfern keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) darstelle. Das Völkerrecht enthalte keine entsprechende Verpflichtung, weshalb die Schweiz diesbezüglich über einen grossen Ermessenspielraum verfüge. 

Sachverhalt

Der 1962 geborene, im Kanton Genf wohnhafte und 2007 eingebürgerte Beschwerdeführer Naït-Liman beschwerte sich beim EGMR, weil die Schweizer Gerichte nicht auf seine zivilrechtliche Schadenersatzklage gegen den tunesischen Staat und den damaligen Tunesischen Innenminister für die in Tunesien erlittene Folter eingetreten waren. Er macht geltend, dass er im April 1992 in Italien von der Polizei verhaftet und daraufhin von Tunesischen Agenten nach Tunesien gebracht worden war, wo er auf Anweisung des damaligen Innenministers gefoltert worden sei. Daraufhin floh der Beschwerdeführer im Jahre 1993 in die Schweiz, wo ihm 1995 Asyl gewährt wurde. Seither ist er im Kanton Genf wohnhaft und im Jahre 2007 erhielt er die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Im Jahre 2001 reichte der Beschwerdeführer eine Strafanzeige gegen den früheren tunesischen Innenminister ein, als sich dieser vorübergehend für einen Spitalaufenthalt in der Schweiz aufhielt. Das Strafverfahren konnte von der Staatsanwaltschaft nicht an die Hand genommen werden, da der Innenminister die Schweiz bereits vor dem Eingang der Strafanzeige wieder verlassen hatte. Im Jahre 2004 erhob der Beschwerdeführer Zivilklage für Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche gegen den Tunesischen Staat und den ehemaligen Tunesischen Innenminister. Die Schweizer Gerichte verneinten jedoch ihre örtliche Zuständigkeit, da unter anderem der Sachverhalt keinen genügenden sachlichen Zusammenhang zur Schweiz aufweise. Das Obergericht des Kantons Genf wies zudem auf die Immunität von der Gerichtsbarkeit der beklagten Parteien hin. Somit könne die Frage einer Notzuständigkeit gemäss Art. 3 IPRG offen gelassen werden.

Eine knappe Mehrheit der Richter der Kleinen Kammer des EGMR stützte im Entscheid vom 21.06.2018 die Auffassung der Schweizerischen Gerichte. Die Schweiz müsse bei der Interpretation der Zuständigkeiten auch ihre internationalen Verpflichtungen, wie beispielsweise die Immunität fremder Staaten, berücksichtigen. Ebenso würde eine weltweite Kompetenz der nationalen Gerichte für zivile Folterklagen zu erheblichen praktischen Problemen für die Justiz führen und es sei nicht ausgeschlossen, dass man sich in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates einmischen würde. Die restriktive Handhabung der Schweiz sei deshalb mit der EMRK vereinbar. Mit diesem Urteil knüpfte der EGMR an seine bisherige Rechtsprechung in einem vergleichbaren Fall an (vgl. Al-Adsani gegen Grossbritannien, Urteil vom 21.11.2001). Dieses Urteil der grossen Kammer des EGMR fiel mit neun zu acht Stimmen ebenfalls äusserst knapp aus.

Urteil der grossen Kammer

Die Grosse Kammer des EGMR bestätigt im  Urteil vom 15. März 2018 den Entscheid der Kleinen Kammer aus dem Jahre 2016 und stützt die Rechtsprechung der nationalen Gerichte. In dem sehr ausführlich begründeten Entscheid urteilt der EGMR mit 15 zu 2 Stimmen, dass die Schweiz völkerrechtlich nicht verpflichtet ist, zivile Schadenersatzprozesse von Folteropfern gegen ausländische Staaten durchzuführen, wenn sich die Folter im Ausland ereignet hat und zum Zeitpunkt der Folter kein Bezug zur Schweiz gegeben war.

Der EGMR hebt im Urteil wiederholt hervor, dass sein  Urteil nichts daran ändere, dass das Verbot von Folter absolut gilt und Folteropfer Anspruch auf ein faires Verfahren haben, um eine Entschädigung für ihre erlittene Folter zu erhalten. Der EGMR betont aber, dass es vorliegend um zivile Ansprüche eines Folteropfers geht und nicht um die strafrechtliche Verantwortung des Täters. Eine solche zivile Streitigkeit fällt in den Schutzbereichdes Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Allerdings kann ein Staat dieses Recht einschränken, wenn dies legitime Interessen notwendig machen und die Einschränkung verhältnismässig ist.

Der EGMR bestätigt, dass die Effizienz des Justizsystems und die Effektivität gerichtlicher Entscheidungen legitime Interessen eines Staates darstellen. Ebenso habe ein Staat ein berechtigtes Interesse, solche Schadenersatzklagen durch seine Zuständigkeit nicht «anzuziehen» (forum shopping). Nach einer ausführlichen Analyse der UNO-Folterkonvention und der Praxis der Staatengemeinschaft kommt der EGMR zum Schluss, dass das Völkerrecht keine universale Gerichtsbarkeit in Bezug auf zivile Schadenersatzklagen von Folteropfern vorschreibt. Das heisst, ein Staat ist nicht verpflichtet, solche Schadenersatzklagen an die Hand zu nehmen, wenn die Tat im Ausland geschah und sowohl Opfer als auch Täter/-in ausländische Staatsangehörige sind. Ebenso sehe das Völkerrecht keine Verpflichtung vor, ein solches Verfahren durchzuführen, weil im Ausland ein Verfahren nicht möglich oder unzumutbar ist. Mangels einer völkerrechtlichen Verpflichtung verfügt die Schweiz über einen weiten Ermessensspielraum.

Das Schweizer Gesetz sieht eine sog. Notzuständigkeit vor, wonach Schweizer Gerichte zuständig sind, wenn ein Verfahren im Ausland nicht möglich oder unzumutbar ist, vorausgesetzt der Sachverhalt weist einen genügenden Zusammenhang mit der Schweiz auf (Art. 3 IPRG). Die Auffassung des Bundesgerichts, bei der Beurteilung, ob ein genügender Zusammenhang zur Schweiz vorliegt oder nicht, sei auf den Zeitpunkt der Folter abzustellen, ist gemäss dem EGMR nicht zu beanstanden. Da vorliegend die Folter im Jahre 1992 ausgeübt wurde, bevor der Beschwerdeführer in die Schweiz einreiste, lag dieser Zusammenhang nicht vor.

Zwei Richter des EGMR waren anderer Auffassung und hielten ihre abweichende Meinung am Ende des Urteils ausführlich fest.

Kommentar

Das Urteil der Grossen Kammer des EGMR wurde mit grosser Spannung erwartet. Viele Menschenrechtsorganisationen reichten beim EGMR denn eigene Stellungnahmen zum Fall ein. Aus Sicht des Menschenrechtsschutzes wäre es erfreulich gewesen, wenn die Zuständigkeit von Schweizer Gerichten für solche Schadenersatzklagen von Folteropfern bejaht worden wäre.

Mit Blick auf die Praxis der Staatengemeinschaft, welche der EGMR detailliert und ausführlich analysierte, kam der EGMR aber zum Schluss, dass die ganz grosse Mehrheit der Staaten sich für zivile Schadenersatzklagen aufgrund von Folter, die im Ausland begangen wurde, nicht zuständig erklären. Leider lässt sich aus dem Völkerrecht noch keine Verpflichtung von Staaten ableiten, Folteropfern ein ziviles Verfahren anzubieten, um ihre Ansprüche geltend zu machen.

Es muss aber betont werden, dass sich das Urteil des EGMR auf zivile Schadenersatzklagen beschränkt, während die universale Gerichtsbarkeit für die strafrechtliche Verantwortung der Täter in Folterfällen allgemein anerkannt ist.

Dokumentation