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Persönlichkeitsverletzung wegen ungerechtfertigtem Antisemitismus-Vorwurf

07.06.2016

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kam heute zum Schluss, dass das Bundesgericht mit einem Entscheid zugunsten der Persönlichkeitsrechte eines Buchautors die Meinungsäusserungsfreiheit nicht verletzt habe.

Sachverhalt

Mit Unterstützung der Universität Genf veröffentlichte Politikwissenschaftsprofessor W.O. 2005 das Buch «Israël et l’autre» (Israel und das Andere). Die Publikation enthält verschiedene Beiträge von Akademikern und Intellektuellen zur Rolle des Judentums in der israelischen Politik und zu den Konsequenzen dieser Politik.

Der Verein CICAD («Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation») kritisierte das Buch kurz nach seiner Veröffentlichung in einem Newsletter und stellte die Behauptung auf, das Vorwort von Professor W.O. enthalte antisemitische Äusserungen. Nachdem der Autor des CICAD-Artikels M.S. seine Vorwürfe in einer andern Zeitschrift wiederholt hatte, reichte W.O. am 11. Juli 2006 eine zivilrechtliche Klage wegen widerrechtlicher Verletzung seiner Persönlichkeit ein. Das erstinstanzliche Gericht im Kanton Genf trat auf die Klage ein und stellte fest, dass die Äusserungen des CICAD-Autors M.S. gegen Professor W.O. ehrverletzend gewesen seien. Es verfügte, dass der verletzende Artikel von der Website des CICAD zu entfernen und die Erwägungen des Gerichts im Newsletter und im jüdischen Wochenmagazin «Revue juive» zu publizieren seien.

CICAD und M.S. legten gegen diesen Entscheid beim kantonalen Obergericht Beschwerde ein. Dieses bestätigte das Urteil der Vorinstanz. Es präzisierte zudem, dass der Ehrbegriff im zivilrechtlichen Sinne weiter zu fassen sei als in einem strafrechtlichen Kontext, er umfasse auch das berufliche, wirtschaftliche und soziale Ansehen einer Person. Die gemachten Aussagen seien geeignet gewesen, das gesellschaftliche Ansehen von W.O. als Universitätsprofessor nachhaltig herabzusetzen. Die von CICAD und M.S. dagegen erhobene Beschwerde beim Bundesgericht wurde am 28. Juli 2008 abgewiesen.

Gestützt auf das Recht auf freie Meinungsäusserung (Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK) gelangte CICAD daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR.

Aus der Urteilsbegründung

Der EGMR hat in seinem Urteil vom 7. Juni 2016 das Bundesgericht gestützt. Dieses habe eine ausgewogene Interessensabwägung zwischen dem Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit von CICAD und dem Recht auf Achtung des Privatlebens des Professors W.O. (Art. 8 EMRK) vorgenommen. Die in Frage stehenden Äusserungen seien nicht herabsetzend gegenüber dem jüdischen Volk, weshalb der Vorwurf des Antisemitismus einer faktischen Grundlage entbehre. Der Vorwurf wiege aufgrund des strafrechtlichen Charakters antisemitischer Äusserungen und des historischen Kontextes zudem besonders schwer und sei geeignet, den Ruf des Autors nachhaltig zu beschädigen. Ausserdem sei in der Verbreitung mittels Internet eine speziell schwerwiegende Beeinträchtigung zu erblicken, da der Professor dadurch mit Antisemitismus in Verbindung gebracht werde, wenn jemand in einer Suchmaschine nur dessen Namen eingebe.

In seiner Begründung anerkannte der EGMR, dass an die Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit im politischen Diskurs oder bei Fragen von allgemeinem öffentlichem Interesse besonders hohe Anforderungen an die sachliche Rechtfertigung zu stellen sind. Diese seien vorliegend aber aus den erwähnten Gründen erfülllt; das Bundesgericht habe das Recht auf Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 EMKR zurecht priorisiert.

Kommentar

In der Sache ging es bei diesem Urteil erstens um die Frage, ob und wann ein sachlicher Hinweis auf den Selbstbezug des israelischen Staates auf das Judentum als Antisemitismus zu werten sei. Hier kam der EGMR zum Schluss, dass die Äusserungen von W.O, der selber jüdischer Herkunft ist, auch nach einem modernen Begriffsverständnis von Antisemitismus nicht als solcher einzustufen sind.

Weil der ungerechtfertigte Antisemitismus-Vorwurf von den schweizerischen Gerichten als Persönlichkeitsverletzung eingestuft worden war und letztere das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) tangiert, stand zweitens die Frage im Zentrum, ob im vorliegenden Fall das Bundesgericht im Konflikt zwischen der Meinungsäusserungsfreiheit und dem Recht auf Privatleben beide Rechtspositionen angemessen berücksichtigt und insbesondere die Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit des CICAD-Autors wegen der ehrverletzenden Äusserung ausreichend begründet hat. Auch diesbezüglich stützte der Gerichtshof das Urteil des Bundesgerichts.