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Die Schweiz hat die Meinungsäusserungsfreiheit nicht verletzt

06.04.2016

(Artikel von Schutzfaktor M übernommen)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt heute nach erneuter Prüfung durch die Grosse Kammer zum Schluss, dass die Schweiz die Meinungsäusserungsfreiheit eines Westschweizer Journalisten nicht verletzt hat. Dieser hatte 2003 in einem Artikel über einen Amok-Raserunfall mit mehreren Toten Informationen aus Polizeiprotokollen verwendet und war darum zu einer Busse verurteilt worden.

Zusammenfassung Fall

Der 1965 geborene Beschwerdeführer, A.B., ist Schweizer und von Beruf Journalist. Er ist Autor des am 15. Oktober 2003 veröffentlichen Artikels „Tragödie auf der Lausanner Brücke“. Der Artikel berichtete über die Amokfahrt eines Mannes, der am 8. Juli 2003 mit seinem Auto in eine Gruppe von Fussgänger gefahren war, bevor er selbst von der Lausanner Brücke sprang. Dabei starben drei Personen und acht wurden verletzt. Der Fahrer überlebte und sitzt seither in Haft.

Der Artikel des Beschwerdeführers beschrieb nicht nur die Geschehnisse der Amokfahrt sondern enthielt auch eine Zusammenfassung der polizeilichen sowie untersuchungsrichterlichen Fragen und die entsprechenden Antworten des Amokfahrers. Erwähnt wurde im Artikel auch, dass der Amokfahrer der vorsätzlichen Tötung, eventuell des Mordes sowie der schweren Körperverletzung angeklagt sei und keine Reue zeige. Der Artikel enthielt zudem mehrere Fotos von Briefen, die der Amokfahrer dem Untersuchungsrichter gesandt hatte sowie eine Zusammenfassung mit dem Titel „Er hat den Verstand verloren“, in der Stellungnahmen der Ehefrau sowie seines Arztes aufgeführt waren.

Daraufhin leitete der Staatsanwalt ein Verfahren gegen A.B. wegen Veröffentlichung vertraulicher Dokumente ein. Am 23. Juni 2004 wurde A.B. zu einer einmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Diese wurde später in eine Geldstrafe umgewandelt. Die gegen das Urteil erhobene Beschwerde bei der nächsthöheren Instanz sowie die Beschwerde vor dem Schweizerischen Bundesgericht wurden im Januar 2006 bzw. am 29. April 2008 abgewiesen. A.B. gelangte deshalb an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR und machte geltend, dass die Verurteilung nach Art. 293 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB; Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen) verletze sein Recht auf freie Meinungsäusserung (Art. 10 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK).

Kammerurteil

Am 1. Juli 2014 entschied die Kammer der zweiten Sektion mit 4 zu 3 Stimmen, A.B.’s Recht auf freie Meinungsäusserung sei verletzt worden. Der Kammer befand, dass die Schweiz nicht dargelegt habe, inwiefern die Veröffentlichung der vertraulichen Informationen die Unschuldsvermutung gegenüber dem Amokfahrer beeinträchtigte. Der EGMR bemerkte auch, dass der Amokfahrer die Möglichkeit gehabt hätte, zivilrechtlich gegen den Journalisten vorzugehen und er diese nicht genutzt habe. Es obliege in erster Linie ihm, sich für den Respekt seines Privatlebens einzusetzen.

Die Minderheit verfasste eine abweichende Meinung und machte u.a. geltend, dass mit Blick auf die bestehende Rechtsprechung ein falscher Beweismassstab angelegt wurde. Es sei nicht von Belang, ob die Veröffentlichung der vertraulichen Informationen aus einer nachträglichen Sicht tatsächlich eine Beeinträchtigung der geschützten Interessen (Unschuldsvermutung, geordnete etc.) herbeigeführt haben, sondern, ob diese Interessen im Zeitpunkt der Veröffentlichung der Informationen gefährdet waren. Anders als die Mehrheit kam die Minderheit damit zum Schluss, dass Art. 10 EMRK nicht verletzt wurde.

Auf Initiative der Schweiz wurde der Entscheid an die Grosse Kammer des EGMR zur erneuten Beurteilung überwiesen.

Urteil der Grossen Kammer

Die Grosse Kammer befand, dass im vorliegenden Fall das Informationsrecht des Beschwerdeführers sowie das Recht der Öffentlichkeit auf Information anderen ebenso wichtigen öffentlichen und privaten Interessen entgegenstehen (geordneter Ablauf eines Strafverfahrens, Garantie einer unabhängigen Justiz, das Recht des Angeklagten auf Geltung der Unschuldsvermutung sowie das Recht auf Achtung des Privatlebens). Ausgangspunkt der damit erforderlichen Interessenabwägung bildeten laut Gerichtshof die in der bisherigen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, die bereits vom Bundesgericht berücksichtigt wurden. Dabei handle es sich u.a. um die Natur der veröffentlichen Informationen, den Beitrag durch deren Veröffentlichung an die öffentliche Debatte sowie die dadurch resultierenden Auswirkungen für den laufenden Strafprozess und das Privatleben des Angeklagten oder Dritter.

In Anwendung dieser Kriterien schützte der EGMR die Einschätzung der Schweizer Behörden, dass  die von A.B. veröffentlichten Informationen in erster Linie Bedürfnisse an Sensations-Journalismus befriedigen und keinen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Debatte über den laufenden Strafprozess leisten. Darüberhinaus anerkannte der EGMR auch, dass der Artikel, im Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, in der Lage war, den ordentlichen Ablauf des Strafverfahren sowie die gegenüber dem Angeklagten geltende Unschuldsvermutung zu gefährden. Damit verwarf die Grosse Kammer den durch die Kammer angewandten Beweismasstab, wonach in einer nachträglichen Betrachtung die tatsächlichen Auswirkungen der Veröffentlichung ausschlaggebend seien. Weiter betonte der EGMR unter dem Aspekt des Rechtes auf Achtung des Privatleben des Angeklagten (Art. 8 EMRK), dass die veröffentlichen Informationen höchst persönlicher und teils medizinischer Natur waren und somit besonderen Schutz verlangen. Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der positiven Verpflichtung der Vertragsstaaten, könne den Schweizer Behörden kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie einen präventiven Ansatz wählen, um das Recht auf Achtung des Privatlebens zu schützen und die Veröffentlichung von Dokumenten unter Strafverfolgung stellen.

Die Grosse Kammer übernahm damit weitgehend die Argumentation der Minderheit des Kammerurteils  und gelangte zum Ergebnis, dass die Schweizer Behörden eine sorgfältige Interessenabwägung vorgenommen hatten, die Art. 10 EMRK nicht verletz hat.

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