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Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz

17.08.2009

Keine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Familienleben im Zusammenhang mit Kindesentführung)

  • Urteil vom 8. Januar 2009 (Beschwerde 41615/07)
    auf der Website des Bundesgerichts (französisch)

Zusammenfassung des Bundesamtes für Justiz:

«Die Beschwerdeführerin, Isabelle Neulinger, eine belgische, schweizerische und israelische Staatsangehörige, hat Ende Mai 2005 mit ihrem damals nicht ganz zwei Jahre alten Sohn Noam Shuruk in Missachtung eines israelischen Gerichtsbeschlusses dieses Land verlassen. Beide befinden sich im Kanton Waadt. Der in Israel wohnhafte Vater des Kindes, Shay Shuruk, hat gestützt auf einen israelischen Entscheid beantragt, es sei die Rückkehr des Kindes nach Israel zu veranlassen. Nachdem der Antrag von den kantonalen Behörden abgelehnt worden war, hat das Bundesgericht mit Urteil vom 16. August 2007 angeordnet, Frau Neulinger müsse für die Rückkehr des Kindes bis Ende September 2007 sorgen. Es ging dabei davon aus, es sei Frau Neulinger zumutbar, mit ihrem Sohn nach Israel zurückzukehren.
Frau Neulinger und ihr Sohn haben daraufhin Beschwerde beim EGMR erhoben. Sie rügen insbesondere, das Bundesgericht habe der Gefahr, die eine Rückkehr nach Israel für das Wohl von Noam Shuruk beinhalte, nicht genügend Rechnung getragen und habe die Zumutbarkeit der Rückkehr zu Unrecht bejaht.
Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Abreise der Beschwerdeführer aus Israel im Sinne des Haager Kindsentführungsübereinkommens (SR 0.211.230.02) widerrechtlich erfolgt ist. Das Übereinkommen sieht für solche Fälle die sofortige Rückführung des Kindes in den Herkunftsstaat vor, es sei denn, diese sei mit der Gefahr eines schwerwiegenden körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden. Bei der nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung sei deshalb zu prüfen, ob das Bundesgericht zu Recht einen solchen Ausnahmefall verneint habe. Der Gerichtshof hat erwogen, nichts lasse darauf schliessen, die israelischen Behörden seien nicht im Stande oder gewillt, die Beschwerdeführer gegen ein allfälliges aggressives Verhalten seitens des Vaters von Noam Shuruk zu schützen. Er erwog weiter, da sie freiwillig nach Israel gezogen sei, dort sechs Jahre gelebt habe und in der Schweiz für dasselbe multinationale Unternehmen tätig sei wie sie es dort war, sei es der Beschwerdeführerin zuzumuten, mit ihrem Sohn nach Israel zurückzukehren. Dasselbe gelte für Noam Shuruk. Was die Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung und einer damit verbundenen Inhaftierung der Beschwerdeführerin anbelangt, gebe es keinen Anlass, an den Aussagen der israelischen Behörden zu zweifeln, welche diese Gefahr stark relativiert hatten. Der Gerichtshof führte weiter aus, das Wohl des Kindes sei am besten gewahrt, wenn es zu beiden Eltern Kontakt pflegen könne. In diesem Sinn wäre es in der Verantwortung der Beschwerdeführerin gelegen, über die Erziehung des Kindes, dessen Wohnort und die Besuchsmodalitäten eine Einigung mit dem Vater zu suchen. Der Gerichtshof befand somit, der angefochtene Entscheid stelle keine Verletzung von Artikel 8 dar (4 zu 3 Stimmen; Gesuch der Beschwerdeführer um Neubeurteilung vor der Grossen Kammer hängig).»

Quelle: Bundesamt für Justiz, Quartalsberichte über die Rechtsprechung des EGMR, 1. Quartal 2009 (pdf, 15 S.)