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Strassburg: Die Schweiz hat nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstossen

17.06.2015

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gibt in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 der Schweiz Recht. Er hat die Klage von S.-L., die einen Verstoss gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 EMRK geltend gemacht hatte, abgewiesen. Die Schweizerin hatte geklagt, weil die Polizei sie bei der Einvernahme in einem Fall versuchten Mordes nicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht hingewiesen hatte. Im Urteil bestätigt der EGMR zwar, dass das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht selber zu belasten, zu den Kerngarantien der EMRK gehört. Das heisst, die Polizei hat grundsätzlich die Pflicht, jede in einem Verfahren involvierte Person, selbst im frühesten Stadium der Ermittlungen, auf ihr Schweigerecht hinzuweisen. Allerdings befand der Gerichtshof, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin während der beanstandeten Einvernahme für die Verurteilung nicht ausschlaggebend waren.

(Redigierte Zusammenfassung des Urteils vom Verein Schutzfaktor M)

Der Sachverhalt

Der Beschwerdeführerin wurde zur Hauptsache vorgeworfen, dass sie zusammen mit ihrem damaligen Partner versucht habe, ihren von ihr getrennt lebenden Ehemann, mit dem sie über das Sorgerecht der beiden gemeinsamen Kinder im Streit lag, zu töten. Das Bezirksgericht Baden verurteilte die Frau am 26. Februar 2004 wegen versuchten Mordes, Gefährdung des Lebens und falscher Anschuldigung zu einer Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren Zuchthaus. Gegen dieses Urteil führte sie zunächst beim Obergericht des Kantons Aargau und anschliessend beim Bundesgericht Beschwerde. Letztes hiess ihre Beschwerde mit Entscheid vom 8. Mai 2006 gut und hob das angefochtene Urteil auf, weil dieses auf Angaben der Beschwerdeführerin basierte, die sie bei der Kantonspolizei gemacht hatte, ohne jedoch auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht worden zu sein. Das Obergericht des Kantons Aargau beurteilte den Fall neu und verurteilte die Beschwerdeführerin mit Urteil vom 6. Juni 2007 zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren Zuchthaus. Gegen dieses Urteil erhob die Beschwerdeführerin staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Dabei rügte sie insbesondere, dass das angefochtene Urteil auf Aussagen basiere, die sie im Rahmen einer polizeilichen Einvernahme am 1. August 2001 als Auskunftsperson gemacht habe, ohne jedoch auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht worden zu sein. Die entsprechenden Angaben könnten deshalb vor Gericht nicht verwertet werden. Die Einvernahme war erfolgt, nachdem ihr damaliger Partner am 31. Juli 2001 versucht hatte, ihren Ehemann zu erstechen.

Urteil des Bundesgerichts

In seinem nun vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angefochtenen Urteil vom 21. Januar 2008 kam das Bundesgericht im Wesentlichen zum Schluss, dass die zur Zeit der polizeilichen Einvernahme am 1. August 2001 geltende aargauische Strafprozessordnung keine Pflicht enthalten habe, Auskunftspersonen auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam zu machen. Aufgrund dieser mangelnden kantonalen Vorschriften komme deshalb die Belehrungspflicht gemäss Art. 31 Abs. 2 der schweizerischen Bundesverfassung zur Anwendung. Gemäss dieser Bestimmung hat nur diejenige Person einen Anspruch über ihre Rechte unterrichtet zu werden, der die Freiheit entzogen worden ist. Da die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Befragung als Auskunftsperson weder in Haft noch in einer vergleichbaren Drucksituation gewesen sei, kam das Bundesgericht zum Schluss, dass Art. 31 Abs. 2 BV keine Anwendung finde und die Aussagen der Beschwerdeführerin deshalb verwertet werden könnten (Erw. 3.4.2). Im Übrigen wies das Gericht u.a. Rügen der Beschwerdeführerin betreffend die Ablehnung von Anträgen auf die Befragung von Zeugen und betreffend die Nichtprotokollierung von Aussagen des Mitangeklagten ab.

Urteil des EGMR: Kein Verstoss gegen Art. 6 Abs. 1 EGMR

In seinem Urteil vom 16. Juni 2015 kommt der EGMR zunächst zum Schluss, dass sich die Beschwerdeführerin zu Recht auf Art. 6 Abs. 1 EKMR berufen habe. Diese Bestimmung könne auch schon im vorgerichtlichen Verfahren eine Rolle spielen, wenn in diesem Zusammenhang das Recht auf ein faires Verfahren im nachfolgenden Prozess ernsthaft gefährdet werde. In der Sache selbst führt der Gerichtshof aus, dass das Recht, sich nicht selbst zu belasten und die Aussage zu verweigern, zu den Kerngarantien von Art. 6 Abs. 1 EMRK gehöre. Gemäss dem EGMR hätte die Polizei die Beschwerdeführerin bei der Einvernahme vom 1. August auf ihr Recht, sich nicht selbst zu belasten und auf ihr Aussageverweigerungsrecht hinweisen sollen. Die dabei gemachten Aussagen der Beschwerdeführerin seien jedoch für die Verurteilung nicht ausschlaggebend, sondern für die Beweisführung nur von untergeordneter Bedeutung gewesen. Die Verurteilung stütze sich vielmehr auf die Aussagen des geständigen ehemaligen Partners der Beschwerdeführerin, die durch Aussagen mehrerer anderer Personen erhärtet worden seien. Im Übrigen habe sich die Beschwerdeführerin anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 1. August 2001 gar nicht selbst belastet. Der EGMR beurteilt deshalb das Verfahren gegen die Beschwerdeführerin in seiner Gesamtheit als fair.

Weitere Beschwerdegründe: Kein Verstoss gegen Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK

Betreffend die Rüge der Ablehnung von Beweisanträgen der Beschwerdeführerin hält der Gerichtshof fest, dass die Auslegung der jeweiligen Gesetzgebung in erster Linie die Aufgabe der nationalen Gerichte sei. Dies treffe auch auf die Beurteilung der Zweckmässigkeit von Beweisanträgen zu. Aufgrund der klaren Beweislage habe das Bundesgericht die Beweisanträge der Beschwerdeführerin deshalb zu Recht als unzweckmässig beurteilt. Schliesslich hält der EGMR die Ausführungen des Bundesgerichts betreffend der gerügten Protokolllierungsfehler für plausibel und nicht zu beanstanden.

Kommentar

Der EGMR hat zwar dem Bundesgericht in einem zentralen Punkt des Verfahrens widersprochen, indem er festgestellt hat, dass die Beschwerdeführerin auch bereits im Rahmen der polizeilichen Einvernahme auf ihr Aussageverweigerungsrecht hätte hingewiesen werden sollen. Aufgrund der klaren Beweislage, und weil sich die Beschwerdeführerin gar nicht selbst belastet hatte, spielte dieser Fehler für den Ausgang des Verfahrens jedoch keine Rolle. Das Verfahren wurde deshalb vom EGMR insgesamt als fair beurteilt. Diese Argumentation vermag zu überzeugen. Insbesondere ist es sachgerecht, dass das Auskunftsverweigerungsrecht gestützt auf Art. 6 Abs. 1 EMRK unter den einschlägigen Voraussetzungen bereits im vorgerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden kann. Hinzuweisen ist zudem auf die vom EGMR betonte vorrangige Zuständigkeit der nationalen Gerichte bei der Auslegung der nationalen Gesetzgebung, und damit wie im vorliegenden Fall auch bei der Beurteilung von Beweisanträgen. Der EGMR sorgt erst subsidiär dafür, dass die Konventionsrechte im strittigen Einzelfall effektiv eingehalten werden.