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EGMR zum Fall Perincek: Auch die Grosse Kammer schützt die Meinungsäusserungsfreiheit 

15.10.2015

Auch die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist in einem Urteil vom 15. Okt. 2015 zum Schluss gekommen, dass die Schweiz den türkischen Nationalisten Dogu Perinçek zu Unrecht verurteilt hat. Das Bundesgericht hatte ihn wegen seiner Leugnung des Armenier-Völkermords während Auftritten in der Schweiz mit Verweis auf die Rassismus-Strafnorm (Art. 261bis Abs 4.) schuldig gesprochen. Der EGMR schützt in diesem international brisanten Fall die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK).

Sachlage

Der türkische Politiker Dogu Perinçek hat 2005 in Lausanne, Opfikon und Köniz an öffentlichen Vorträgen die Einstufung der Massaker an den Armeniern in den Jahren 1915 - 1917 als «internationale Lüge» bezeichnet. In der Folge kam es in der Schweiz zu einem Verfahren gegen Perinçek, weil die Leugnung eines Völkermords aufgrund von Art. 261bis Abs. 4 in der Schweiz verboten ist. Das Lausanner Bezirksgericht und später das Bundesgericht sprachen Perinçek schuldig. Dieser akzeptierte das Urteil nicht und gelangte an den EGMR. In einem ersten Entscheid vom Dezember 2013 hielt das Gericht fest, dass die Verurteilung von Perinçek durch die Schweiz die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) verletzt. Die Schweiz akzeptierte dieses Urteil nicht und ersuchte die Grosse Kammer des Gerichtshofs für Menschenrechte um eine Neubeurteilung des Falles. Diese entschied im März 2014, dass sie den Fall Perinçek behandeln wird.

Starke Gewichtung der Meinungsäusserungsfreiheit

Die Grosse Kammer des EGMR kommt in ihrem abschliessenden Urteil vom 15. Oktober 2015 zum Schluss, dass die strafrechtliche Verurteilung von Dogu Perinçek in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig ist. Die gemachten Aussagen des türkischen Politikers während seines Auftritts in der Schweiz sind durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, obwohl sie die Identität und Würde der Mitglieder der armenischen Gemeinschaft tangieren. Doch es sei nicht das Ziel des türkischen Politikers gewesen, Hass gegen die Armenier zu säen. Die Grosse Kammer stützt damit den Entscheid der ersten Kammer des EGMR vom Dezember 2013.

Urteil und Argumentationslinien des EGMR

Der EGMR hat sich konsequent nicht zur Frage geäussert, ob es sich bei den Massenmorden und Vertreibungen von Armeniern von 1915 - 1917 wirklich um einen Genozid gehandelt hatte. Diese Frage hätte nicht er zu entscheiden, sondern ein internationaler Strafgerichtshof. Der EGMR hält zudem fest, dass es unter den Vertragsstaaten der EMRK keinen Konsens darüber gebe, ob und wie die Leugnung eines Genozids strafrechtlich verfolgt werden soll.

Die Richter/innen der Grossen Kammer wägten ab zwischen zwei Grundrechten, die durch die EMRK geschützt sind. Sie sehen auf der einen Seite einen klaren Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) von Perinçek. Auf der anderen Seite stimmen sie überein, dass die Aussagen von Perinçek die Würde und Identität der armenischen Gemeinschaft und damit das von der EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) betrafen. Der EGMR hält in diesem Zusammenhang fest, dass die armenische Diaspora ihre Identität unter anderem darauf aufbaut, dass sie Opfer von einem Genozid war. Das Bundesgericht hatte denn auch den Eingriff in die Rechte von Perincek unter anderem mit dem Ziel begründet, die Menschenwürde der Armenier zu schützen.

Das Gericht hält weiter fest, dass sich Perinçeks Aussagen auf eine Fragestellung bezogen, die von öffentlichem Interesse sei. Überdies sei im Zusammenhang mit den öffentlichen Auftritten Perinçeks in der Schweiz kein Aufruf zu Hass gegen die armenische Gemeinschaft erfolgt. Er habe sie weder als Lügner bezeichnet oder karikiert noch sonstige beleidigende Worte gebraucht. Seine Aussagen richteten sich vielmehr gegen die historischen «Imperialisten» und deren hinterlistigen Absichten in Bezug auf das Osmanische Reich. Auch waren die Umstände, in denen es zu den Aussagen kam, nicht geprägt von ethnischen Spannungen und es hätte auch keine Notwendigkeit gegeben, einen Präzedenzfall zu schaffen. Die Äusserungen verlangten daher auch nicht nach einer strafrechtlichen Antwort durch die Schweiz.

Ferner erforderte keine internationale Verpflichtung der Schweiz, die Aussagen von Perinçek zu kriminalisieren. Nach Einschätzung des EGMR erfolgte die Bestrafung von Perinçek für eine Ansicht, die nicht der in der Schweiz gängigen Meinung entsprach.

Abweichende Meinungen

Das Urteil war allerdings auch in der Grossen Kammer umstritten. 10 Richter/innen stellten sich dahinter und 7 Richter/innen haben ihre abweichenden Meinungen dem Urteil beigefügt.

Kommentar

Die Grosser Kammer des EGMR wollte nicht Richterin spielen in einem Streit um die Bewertung historischer Tatsachen, und das ist gut so. Ohne einer Detailanalyse vorzugreifen, kann bereits aus der Pressemitteilung zum umfangreichen Urteil eine Stossrichtung abgeleitet werden, nämlich ein Kommentar zur Anwendung des vierten Absatzes der Rassismus-Strafnorm Art. 261bis: Die Leugnung eines Völkermords sei nicht per se als Delikt zu betrachten sondern nur in Verbindung mit einer gezielten Herabsetzung einer ethnischen oder religiösen Gruppe (so steht es ja auch in 261bis), wobei die Herabsetzung so massiv sein muss (und dies wäre das neue Element), dass sie einem direkten Angriff auf die Menschenwürde der betreffenden Gruppe oder einem Aufruf zum Hass gleichzusetzen sei. Im Falle der Holocaust-Leugnung sei diese Gleichsetzung in jedem Fall gegeben; im Falle der inkriminierten Äusserungen von Perinçek zum Armenier-Völkermord im gegebenen Kontext jedoch nicht.

Es handelt sich um einen feinen Unterschied, und es bleibt einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Urteil vorbehalten zu beurteilen, ob dieser haltbar ist oder nicht. Was aber jetzt schon gesagt werden kann: Vier der fünf Absätze der Rassismus-Strafnorm sind von diesem Urteil überhaupt nicht betroffen, sondern nur die Interpretation des zweiten Teils des vierten Absatzes zum Völkermord und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit ist bereits die Aussage widerlegt, wonach das heutige Urteil des EGMR die Antirassimus-Strafnorm faktisch aushebeln würde. Alle übrigen Urteile, welche die Schweizer Justiz mit Bezug auf Art. 261bis jemals gefällt hat, sind vom heutigen Entscheid nicht betroffen und werden somit auch nicht in Frage gestellt.

Nachtrag vom 09.09.2016

Inzwischen hat das Bundesgericht als Konsequenz des EGMR-Urteils das Revisionsgesuch von Perinçek gutgeheissen und dessen Verurteilung aufgehoben.