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Absage an die Verfassungsgerichtsbarkeit für Bundesgesetze

04.12.2012

Der Nationalrat hat am 3. Dezember 2012 den Vorstoss zur Einführung der konkreten Normenkontrolle für Bundesgesetze gegen den Willen des Bundesrates klar abgelehnt. Bis auf Weiteres dürfte damit die Verfassungsgerichtsbarkeit für Gesetze, welche das Parlament erlässt, vom Tisch sein. Damit können die Räte auch in Zukunft Bundesgesetze erlassen, welche im Widerspruch zur Verfassung stehen.

Vor rund einem Jahr hatte sich der Nationalrat nach einer bewegten Debatte noch für die Streichung von Artikel 190 der Bundesverfassung ausgesprochen, dies allerdings mit einer sehr knappen Mehrheit. Im Juni 2012 stimmte dann eine Mehrheit des Ständerats gegen den Vorstoss. Nun ist die Grosse Kammer dem Ständerat mit 101 gegen 68 Stimmen deutlich gefolgt. Mit diesem Entscheid dürfte die Verfassungsgerichtsbarkeit für längere Zeit von der politischen Agenda verschwinden. 

Anfang 2011 hatte die Rechtskommission des Nationalrats die Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit lanciert. Mit einem Bericht und einem Vernehmlassungsentwurf, der Ende Februar 2011 in die Konsultation ging, forderte die Kommission, dass die Bundesverfassung vor Bundesgesetzen Vorrang haben soll. Das Anliegen war bereits 1999 im Rahmen der Justizreform im National- und Ständerat diskutiert worden und fand auch damals keine Mehrheit.

«Konkrete» Normenkontrolle

Der Vorschlag geht zurück auf zwei Parlamentarische Initiativen, die 2005 und 2007 von den Nationalräten Heiner Studer (EVP, AG) und Vreni Müller-Hemmi (SP, ZH) eingereicht worden waren. Diese resultierten in einem Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrates zur Streichung von Artikel 190 der Bundesverfassung.

Die Neuregelung hätte zur Folge gehabt, dass das Bundesgericht die Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft hätte, jedoch nur im Einzelfall. Das Gericht hätte die erlassenen Bundesgesetze nicht für ungültig erklären können, vielmehr war eine sogenannt «konkrete» Normenkontrolle vorgesehen. Das heisst, Personen, welche sich durch ein Bundesgesetz in ihren Grundrechten verletzt sehen, hätten vor Bundesgericht klagen können.

Mit der nun erfolgten Absage an die Vorlage bleibt dies unmöglich. Erst eine Klage beim Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann zu einer Bewertung der Grundrechtslage führen und gegebenenfalls zu einer Abmahnung der Schweiz führen. Bundesgesetze können, anders als kantonale Gesetze, weiterhin nicht vom Bundesgericht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden. 

Das Anliegen spaltete die politischen Lager

Der Nationalrat hatte in der Wintersession 2011 nach einer bewegten Debatte mit 94:86 Stimmen (bzw. beim Eintreten 95:90 Stimmen) relativ knapp für die Verfassungsgerichtsbarkeit votiert. Geschlossen für die Vorlage stimmten die Grünen, die Grünliberalen und die BDP. Mehrheitlich für die Vorlage stimmte die CVP, mehrheitlich dagegen die FDP. Gegen die Vorlage kämpfte sodann die geschlossene SVP. Einige wenige SP-Nationalräte/-innen stimmten ebenfalls gegen die Vorlage. Sie befürchteten, dass das Bundesgericht Arbeitnehmerrechte aufheben könnte, weil sie mit der in der Verfassung verankerten Wirtschaftsfreiheit in Konflikt stehen. 

Im Ständerat sprach sich Robert Cramer (GP, GE) für die Verfassungsgerichtsbarkeit aus. In seinem Votum führte er das Beispiel das Frauenstimmrecht an und hielt fest, als es noch Kantone gab, die Frauen das Stimmrecht verweigerten, hätten Frauen keine Möglichkeit gehabt, ihr verfassungsmässiges Recht durchzusetzen. Die heutige Regelung führe über kurz oder lang zu rechtsstaatlich unhaltbaren Zuständen, stellte auch Claude Janiak (SP, BL) fest. Das Bundesgericht sollte nicht daran gehindert werden, der Verfassung zum Durchbruch zu verhelfen. Den Gegnern warf Janiak vor, in der Debatte um das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat stets die Demokratie höher zu gewichten.

Die Gegner warnten ihrerseits vor Gerichten, die politische Entscheide fällen. Wohin das führen könne, zeige sich in den USA, sagte Paul Rechsteiner (SP, SG). Das Höchste Gericht werde dort schliesslich entscheiden, ob Obamas Gesundheitsreform verfassungsmässig sei oder nicht. Er wolle nicht, dass das Bundesgericht in der Schweiz das Krankenversicherungsobligatorium aufheben könne. Richterentscheide seien nicht zwingend rationaler als Volksentscheide.

Auf den ersten Blick scheine klar, dass die Verfassung über den Gesetzen stehe, räumte Pirmin Bischof (CVP, SO) ein. In der Schweiz sei es aber etwas komplizierter, weil das Volk via Referendumsrecht einen guten Teil der Kontrolle übernehme. Mit der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit würden politische Fragen zu rechtlichen Fragen erklärt. Am Ende überwogen diese Befürchtungen: «Ich will keinen Richterstaat», sagte Urs Schwaller (CVP, FR). «Wir sind stets gut damit gefahren, dass sich kein Richter über das Volk stellen kann», befand Ivo Bischofberger (CVP, AI). Und This Jenny (SVP, GL) lief es nach eigenen Angaben beim Gedanken an eine Änderung des Systems «eiskalt über den Rücken».

Hans Stöckli (SP, BE) wandte vergeblich ein, Entscheide des Parlaments könnten auch künftig nicht gerichtlich angefochten werden. Verhindert würde aber, dass das Parlament wissentlich und willentlich Normen erlasse, die verfassungswidrig seien. Der Bundesrat hatte sich für die Vorlage ausgesprochen, die auf eine parlamentarische Initiative zurück geht. Immerhin sei die Bundesverfassung von Volk und Ständen angenommen worden, gab Justizministerin Simonetta Sommaruga im Ständerat zu bedenken. «Wenn man davon abweichen will, soll man das über eine Verfassungsänderung mit Volks- und Ständemehr und nicht auf Gesetzesebene tun.»

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