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Der behinderte Zugang für Schmerzpatienten/-innen und Depressionskranke zur Invalidenrente

18.01.2018

«Schmerzpatienten/-innen» sind Personen, die aus unterschiedlichen Gründen unter chronischen, teilweise sehr starken Schmerzen leiden, und deren Leiden mit den gängigen (v.a. bildgebenden) Methoden der Medizin nicht «objektiviert» werden können. Seit den Nullerjahren wehrt sich die Invalidenversicherung (IV) mit tatkräftiger Unterstützung des Bundesgerichts dagegen, Schmerzpatienten/-innen aufzunehmen. Eine Kursänderung des Bundesgerichts vom Jahr 2015 hatte in der Rechtsprechung bis heute keine Änderungen zur Folge. Im Gegenteil: Gemäss einer Studie von 2017 hat das Bundesgericht seine Praxis in mehreren Aspekten noch verschärft.

Als wäre dies nicht genug, hat das Bundesgericht seit Anfang 2017 mit einer neuen Doktrin zusätzlich einen praktischen Ausschluss von Menschen mit mittelschweren Depressionen aus der IV durchgesetzt. Diese Praxis ist im Sommer 2017 sowohl aus wissenschaftlicher Sicht wie auch von Seiten der psychiatrischen Praktiker/innen für fachlich unhaltbar erklärt worden. Daraufhin korrigierte das Bundesgericht im November 2017 seine Rechtsprechung erneut und unterstellte die Beurteilung der IV-Rentenansprüche bei allen psychischen Erkrankungen – insbesondere auch leichte und mittelschwere Depressionen – den gleichen Kriterien. Ob damit die Chancen für diese Kategorien von chronisch kranken Menschen auf eine IV-Rente tatsächlich ansteigen, wird sich erst noch weisen.

Chronologie eines Skandals

Von 2004 bis 2015 hatten solche Personen wegen einer ausgesprochen abweisenden Rechtsprechung des Bundesgerichts kaum eine Chance, eine Rente der Invalidenversicherung (IV) zu erhalten, – selbst wenn sie unter einem schweren Schleudertrauma oder starkem Rheuma litten.

Korrektur des Bundesgerichts

Zwar korrigierte das Bundesgericht in einem Leitentscheid vom 3. Juni 2015 seine eigene Rechtsprechung. Insbesondere rückte das oberste Gericht von seiner stark kritisierten Doktrin ab, wonach die Vermutung gelte, dass Schmerzleiden ohne klar identifizierbare körperliche Ursache durch eine Willensanstrengung der Schmerzpatienten/-innen grundsätzlich überwindbar seien. Anstelle dieser spekulativen Annahme setzte das Bundesgericht nun auf ein Beweisverfahren, das die Schmerzpatienten/-innen grundsätzlich mit den übrigen Anwärtern/-innen auf eine IV-Rente gleich behandeln sollte.

Keine Überprüfung von abgelehnten Anträgen

Doch schon kurz nach diesem Leitentscheid gab es den ersten Dämpfer. Denn das Bundesgericht hielt in einem neuen Urteil vom 28. Dezember 2015 unmissverständlich fest, dass die geänderte Rechtsprechung nur auf neue, nicht jedoch auf bereits entschiedene Fälle anwendbar sei. Kurz zuvor hatte der EGMR entschieden, dass die alte Rechtsprechung nicht gegen die EMRK verstossen hatte.

2015-2017: Rückschritte bei den IV-Zusprachen

Eine Studie des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich vom Mai 2017 hat nachgewiesen, dass der Grundsatzentscheid des Bundesgerichts vom Juni 2015 keine Verbesserung mit sich gebracht hat. In der Studie wurden laut einem Bericht von «Der Bund» vom 12.6.2017 insgesamt 220 Urteile des Bundesgerichts seit dem Juni 2015 untersucht, in denen es um Schmerzpatienten ging, mit folgendem Resultat: In einem einzigen Fall hat das oberste Gericht eine IV-Rente gutgeheissen. In drei Fällen hat es die Rentenzusprache der Vorinstanz gestützt und zehn Fälle wurden zur Neubegutachtung an die vordere Instanz zurückgewiesen. In 200 Fällen hat das Gericht den Anspruch auf IV-Rente verneint.

Gerade auch bei Fällen von Depressionen hat die Studie eine Verschärfung der Rechtsprechung des Bundesgerichts ausgemacht (vgl. unten). Ein weiterer besorgniserregender Befund der Studie von 2017 ist es, dass die IV und das Bundesgericht mehrfach selbst dann Renten ablehnten, wenn die offiziellen ärztlichen Gutachter diese bejaht hatten. Die IV ignorierte in diesen Fällen die Empfehlung des eigenen regionalärztlichen Dienstes.

Ausschluss von Menschen mit mittelschweren depressiven Erkrankungen

Spätestens ab 2017 haben Verwaltung und bundesgerichtliche Rechtsprechung, wie Eva Slavik im Jusletter vom 4. Sept. 2017 überzeugend nachgewiesen hat, eine neue unüberwindbare Schranke für den Zugang zur IV erstellt, und zwar in Form einer starren Regel,  «wonach eine leicht bis mittelschwer ausgeprägte depressive Störung ohne nachgewiesene Therapieresistenz per se keine invalidenrentenrelevante Diagnose darstellt» (Slavik, S. 13). Das Erfordernis der Therapieresistenz bedeutet, dass eine an mittelschweren Depressionen leidende Person zuerst alle verfügbaren therapeutischen Ansätze ausprobiert haben muss, bevor ihr Anspruch auf IV allenfalls positiv beantwortet werden kann. Diese Bedingung ist in der Praxis jedoch nicht oder nur nach vielen Jahren einlösbar. Die Regel ist also nichts anderes als eine kafkaeske Form des Ausschlusses dieser Gruppe an Erkrankten: aus medizinischer Sicht ein Unsinn und aus rechtlicher Sicht das sachfremde Aufpfropfen einer Bedingung, die im Widerspruch zur bisherigen Praxis steht.

Es erstaunt nicht, dass diese neue «Depressionspraxis» sowohl aus rechtswissenschaftlicher Sicht wie auch von Seite der psychiatrischen Praktiker/innen für fachlich unhaltbar erklärt wurde.

Erneute Korrektur des Bundesgerichts

Die Kritik am Erfordernis der Therapieresistenz würdigte das Bundesgericht in zwei Urteilen vom 30. November 2017. Es hielt fest, dass die Therapieresistenz als alleiniges Kriterium für die Beurteilung eines IV-Rentenanspruchs «weder sachlich geboten noch medizinisch abgestützt» ist.

Das Gericht anerkennt, dass alle psychischen Erkrankungen – also auch leichte und mittelschwere Depressionen – den gleichen Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Objektivier- und Beweisbarkeit unterliegen. Dementsprechend dränge sich bei psychischen Erkrankungen ein einheitliches Vorgehen zur Beurteilung eines Anspruchs auf Invalidenrente auf. Dabei muss künftig in einem strukturierten Beweisverfahren anhand von Indikatoren die tatsächliche Arbeits- und Leistungsfähigkeit der betroffenen Person ermittelt werden.

In diesem Verfahren, welches seit 2015 für die Beurteilung von Schmerzstörungen ohne erklärbare Ursache herangezogen wird, steht die Diagnose oder Therapierbarkeit eines psychischen Leidens nicht mehr im Vordergrund. Massgebend für die Beurteilung eines Rentenanspruchs sind gemäss Bundesgericht u.a. die Ausprägung der Befunde und Symptome, die Inanspruchnahme, der Verlauf und der Ausgang von Therapien und beruflichen Eingliederungsbemühungen, Begleiterkrankungen, Persönlichkeitsentwicklung und –struktur und der soziale Kontext der betroffenen Person sowie das Auftreten der geltend gemachten Einschränkungen in den Lebensbereichen Arbeit und Freizeit.

Diese Indikatoren sollen künftig eine einzelfallgerechte Beurteilung der IV-Rentenansprüche von Menschen mit psychischen Erkrankungen ermöglichen. Dies bedeutet aber auch, dass die Indikatoren je nach Krankheitsbild unterschiedlich gewichtet werden können und aus Gründen der Verhältnismässigkeit auf ein strukturiertes Beweisverfahren verzichtet werden kann, wenn dieses als unnötig oder ungeeignet eingestuft wird.

Zudem obliegt die Beweislast nach wie vor der versicherten Person. Grundsätzlich muss diese beweisen können, dass ihre Arbeitsfähigkeit in allen Lebensbereichen eingeschränkt ist.

Die künftige Gleichbehandlung aller psychischen Erkrankungen bei der Beurteilung von IV-Rentenansprüchen ist sicherlich zu begrüssen, zumal damit Menschen mit leichten oder mittelschweren Depressionen nicht mehr kategorisch vom Erhalt einer IV-Rente ausgeschlossen werden. Ob daraus aber effektiv eine Verbesserung des Zugangs von Menschen mit leichten oder mittelschweren Depressionen zur Invalidenrente resultiert, bleibt fraglich. Denn gemäss einer Studie der Universität Zürich vom Mai 2017 (vgl. oben) führte das strukturierte Beweisverfahren im Zusammenhang mit Schmerzpatienten zu keiner Verbesserung für die Betroffenen. Erst die Rentenentscheide der kommenden Jahre werden zeigen, ob im Hinblick auf Menschen mit leichten oder mittelschweren Depressionen eine konkrete Auswirkung des Bundesgerichtsentscheids nachweisbar ist oder nicht.

Rentenverweigerung führt in eine umfassende Verelendung

Die praktizierende Psychiaterin Doris Brühlmeier Rosenthal hat in der «Schweizerischen Ärztezeitung» ihre Erfahrungen mit verweigerten IV-Renten und der ebenfalls verbreiteten «Ausmusterung» aus der IV. Sie konnte ihre eigenen beunruhigenden Erfahrungen mit einer Fragebogen-Umfrage bei psychiatrischen Praxen in den Kantonen Aargau und Zürich erhärten.

Die Befunde der Psychiaterin sind eindeutig: IV-Verweigerung und IV-Ausschluss führen in der Mehrzahl der psychisch kranken Patienten/-innen zum «sozialen Tod», zur Abhängigkeit vom Sozialamt, verschlechtertem Gesundheitszustand, massiv erhöhten Gesundheitskosten sowie einer vollständigen Erwerbslosigkeit. Auf der andern Seite geht es vergleichbaren Patienten/-innen mit einer IV-Unterstützung in allen Belangen besser: gesundheitlich, sozial und wirtschaftlich. Letzteres, weil viele dieser Gruppe eine Teilzeitarbeit verrichten können.

Die Autorin fordert als Fazit unter anderem einen sofortigen Stopp de «jetzigen IV-Verweigerungsverfahrens» und eine umfassende Wiedergutmachung, insbesondere Weiterführung der IV-Unterstützung für unfair Ausgemusterte.

Rückblick 2004-2015: Per Gerichtsbeschluss überwindbare Leiden

Grundsätzlich galten seit dem Bundesgerichts-Entscheid BGE 130 V 352 von 2004 alle Schmerzleiden ohne nachgewiesene körperliche Ursache als «durch den Willen überwindbar» und waren deshalb kein Grund für einen Rentenanspruch infolge weitgehender Arbeitsunfähigkeit. Nur der Nachweis des Erfüllens von bestimmten, vom Bundesgericht festgesetzten normativen Kriterien betr. «Unüberwindlichkeit des Schmerzleidens» konnte zu Ausnahmen vom Grundsatz führen. Doch dieser Nachweis bedeutete eine stark erhöhte Beweislast auf Seiten der Betroffenen, die in der Regel nicht erbracht werden konnte, weil der massgebliche, von der IV-Stelle beauftragte medizinische Gutachter sozusagen der Gegenpartei angehörte.

Die faktische Ausgrenzung der psychosomatisch chronisch Erkrankten durch die kantonalen IV-Stellen stützte sich auf eine ganze Reihe von Bundesgerichtsurteilen (vgl. unten) und auf ein seit dem 1. Jan. 2012 revidiertes IV-Gesetz. Selbstverständlich wurde die rigorose Praxis vom Bundesamt für Sozialversicherung mitgetragen. Gegen diese geballte Macht von Justiz, Politik und Verwaltung hatten die Betroffenen-Organisationen keine Chance, obwohl der gesunde Menschenverstand wie auch die Menschenrechte klar und deutlich für ihre Anliegen sprachen.

Bundesgericht auf Abwegen

Wie die Umsetzung der IV-Sparziele mit gewissen Menschenrechten kollidierte, zeigt exemplarisch ein Bundesgerichtsurteil vom 31. Okt. 2013.

Das Bundesgericht hatte die Beschwerde einer Frau zu beurteilen, deren seit 1997 bezogene IV-Rente wegen eines Schleudertraumas nach einer Neubeurteilung im Jahre 2012 eingestellt worden war. Die Frau machte geltend, die Aufhebung der Rente verstosse gegen das Fairnessgebot sowie gegen das Diskriminierungsverbot. Letzteres, weil Personen mit psychosomatischen Krankheitsbildern gegenüber solchen mit rein körperlichen Leiden von den IV-Stellen systematisch benachteiligt würden.

Um diesen Vorwurf zurückzuweisen, bemühte das Bundesgericht eine in 10-jähriger Rechtsprechung entwickelte pseudomedizinische Begriffsapparatur, mit Unterscheidungen wie «selbständiger Gesundheitsschaden» (d.i. somatisch bedingt), «soziale Faktoren», «psychische Ursachen» etc. Das Argument lautete, vereinfacht gesagt: Bei den «unklaren Beschwerden» gibt es keinen «naturwissenschaftlich verfolgbaren Wirkungszusammenhang zwischen somatischer Ursache» und Schmerz. Den unklaren psychosomatischen Krankheitsbildern mangle es deshalb an Objektivierbarkeit. Dies sei ein sachlicher Grund für die «Sonderbehandlung» (E 5.8), welcher Personen mit unklaren Beschwerdebildern unterzogen werden. Weil dieser sachliche Grund vorliege, handle es sich um eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung und nicht um eine Diskriminierung.

Rechtsgutachten sieht EMRK verletzt

Diese mit der mechanistischen Medizin des 19. Jahrhunderts übereinstimmende Logik liess sich auch durch ein fundiertes Rechtsgutachten von Jörg Paul Müller und Matthias Kradolfer nicht beirren. Das Doppelgutachten setzt sich zum einen kritisch mit der vom Bundesgericht entwickelten Rechtsprechung auseinander; zum andern untersucht es deren Konformität mit der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK.

Bezüglich EMRK-Konformität kommt Kradolfer zum Schluss, dass die versicherungsrechtliche Gruppierung von Personen mit bestimmten Diagnosen zwar mit dem Diskriminierungsverbot der EMRK zu vereinbaren sei, nicht aber die Rechtsfolgen, welche an diese Unterscheidung geknüpft werden. Denn die Organisation der Entscheidfindung in solchen IV-Abklärungsfällen mit unklaren Beschwerdebildern beinhalte eine doppelte Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren. Dies qualifiziert Kradolfer als eine verfahrensrechtliche Schlechterstellung dieser Patientengruppe, für welche sachliche Gründe fehlen (vgl. Kradolfer Rz. 188). Somit verstösst diese Rechtspraxis auch gegen das Diskriminierungsverbot (Rz. 198). Kradolfer kommt also zum gut begründeten Schluss, dass die heutige Regelung der IV-Abklärung für Schmerzpatienten/-innen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) verletzt.

EGMR-Urteil und neue Praxis nur für neue Fälle

In seinem Urteil vom 10. Dezember 2015 kommt der EGMR jedoch zum Schluss, dass die alte Regelung (vor dem Richtungswechsel des Bundesgerichts im Juni 2015) nicht gegen die EMRK verstosse (hier finden Sie unseren Artikel dazu). Inwiefern dieser Entscheid des EGMR das Urteil des Bundesgerichts vom 28. Dezember 2015 beeinflusste, darüber kann nur spekuliert werden.

Fest steht hingegen, dass das Bundesgericht damit die Wirkung der geänderten Rechtsprechung einschränkt und der Zugang zur IV-Rente für tausende von Schmerzpatienten, die von der Rechtsprechung zwischen 2004 und 2015 betroffen waren, somit weiterhin verwehrt bleibt.

Weiterführende Informationen

Herabstufung des ärztlichen Zeugnisses

Das Bundesgericht hatte im übrigen in einem Entscheid vom Juni 2014 seinen harten Kurs gegenüber IV-Bezügern/-innen noch verschärft, indem es die Bedeutung der ärztlichen Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit unmissverständlich unter seine eigene Entscheidkompetenz herabstufte. Experten/-innen interpretieren das Urteil als eine strategische Weichenstellung, um Menschen mit psychischen Leiden die IV-Berechtigung absprechen zu können.