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Scheidungskinder haben ein Recht auf Anhörung

02.08.2005

 

Scheidungskinder sollen vom Gericht beim Entscheid über die Zuteilung des Sorgerechts grundsätzlich ab dem vollendeten sechsten Altersjahr angehört werden. Dies hat das Bundesgericht entschieden.

Sachverhalt

Die Mutter hatte im Juli 2002 die Zuteilung der elterlichen Sorge über die beiden Töchter verlangt, nachdem die elterliche Sorge nach der Scheidung dem Vater zugeteilt worden war. Die Klage der Mutter wurde abgewiesen. Im November 2004 hatte die Mutter u.a. die Anhörung der Kinder beantragt. Das Obergericht wies dies ab, woraufhin die Klägerin im Februar 2005 Berufung einreichte. Das Bundesgericht hat die Berufung dahingehend gutgeheissen, dass das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird. Insbesondere könnten sich aus der noch durchzuführenden Anhörung der Kinder neue Sachverhaltselemente ergeben.

Neue Richtlinie

Art. 144 Abs. 2 ZGB, der gemäss Bundesgericht über Art. 12 Kinderrechtskonvention hinausgeht, bestimmt, dass die Kinder in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich angehört werden, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen. Zwar legt das Gesetz keine konkrete Altersgrenze des Kindes fest. Das Bundesgericht hat nun im Sinne einer Richtlinie festgelegt, dass die Anhörung ab dem vollendeten sechsten Altersjahr möglich ist.

Die Anhörung ist gemäss Bundesgericht als «verbale Äusserung des Kindes» zu verstehen, was ein entsprechendes Alter voraussetze und von der kinderpsychiatrischen Begutachtung abzugrenzen sei; für letztere sei etwa eine reine Beobachtung genügend, welche kein bestimmtes Mindestalter voraussetze. Abgegrenzt hat das oberste Gericht die Anhörung auch von der Urteilsfähigkeit im Sinn von Art. 16 ZGB. Dass das urteilsfähige Kind seinen Anspruch im Sinne eines persönlichen Mitwirkungsrechts selbst wahrnehmen bzw. die Anhörung selbst verlangen darf, hat das Bundesgericht ausdrücklich festgehalten.

Problematisches Nebengeleise

Das Bundesgericht hielt weiter fest, dass auf die Befragung nur aus wichtigen Gründen verzichtet werden darf. Problematisch ist aber die Feststellung der Richter, dass es keinen Sinn machen würde, «ein Kind anzuhören, das geistig behindert oder in seiner Entwicklung in einer Weise retardiert ist, dass seinen Ausführungen kein Aussagewert beigemessen werden könnte». Diese Ansicht des Bundesgerichts darf wohl nicht so verstanden werden, dass in jedem Fall einer «geistigen Behinderung» die Anhörung abzulehnen ist; letztere muss in jedem Fall einzeln geprüft und darf nur in schwersten Fällen abgelehnt werden. Denn auch diese Kinder sind fähig, ihren Willen bzw. ihre Gefühle mitzuteilen.

Kommentar

Von Bedeutung ist, dass es sich bei der vom Bundesgericht angegebenen Altersgrenze lediglich um eine «Richtlinie» handelt, für die es sich wohl auf den überwiegenden Teil der Lehre beruft. Je nach den konkreten Umständen ist auch die Anhörung eines etwas jüngeren Kindes möglich. Diese Offenheit ist zu begrüssen. Dies bedeutet aber auch eine grosse Herausforderung für die Gerichte, welche diese «Richtlinie» nicht zu eng auslegen dürfen. Das oberste Gericht hat, wie erwähnt, klar festgehalten, dass Art. 144 Abs. 2 ZGB über Art. 12 KRK hinausgeht. Wenn die Rechtstellung des Kindes als Rechtssubjekt im Sinne der Kinderrechtskonvention ernst genommen wird, ist aufgrund entwicklungspsychologischer Sicht eine Anhörung bereits ab dem 5. Altersjahr durchaus möglich und es versteht sich von selbst, dass die Beurteilung dieser Frage auch psychologische Fachkenntnisse erforderlich macht.

Nicht eingegangen ist das Gericht auf die adäquate Art der Anhörung. Das Gesetz sagt lediglich, dass die Anhörung «in geeigneter Weise» erfolgen soll. Die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgabe wird die Gerichte wohl noch vor grössere Herausforderungen stellen als die richtige Festsetzung des Alters der Anhörung. Die Anhörungen sollten nur von qualifizierten Personen durchgeführt werden, was für die Richterin oder den Gerichtsschreiber wohl eine Zusatzausbildung in Anhörung voraussetzt (Bodenmann/Rumo-Jungo, Die Anhörung von Kindern aus rechtlicher und psychologischer Sicht, FamPra, 1/2003, 26). Die auch vom Bundesgericht zitierte Botschaft erwähnt denn auch auf Seite 145: «Was die fachliche Qualifikation der Richterinnen und Richter für die Anhörung betrifft, so darf eine entsprechende Weiterbildung erwartet werden (vgl. Ziff. 234.122)».