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Der Fall Benaissa und das Regime der Untersuchungshaft in der Schweiz

18.08.2014

Über 2 Jahre befand sich der kanadische Staatsangehörige Riahd Benaissa im Berner Regionalgefängnis in Untersuchungshaft. Nun wurde der ehemalige Vizepräsidenten eines kanadischen Bauingenieurkonzerns vom Bundesstrafgericht in Bellinzona zu einer bedingten Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Benaissa hatte als Kadermitglied des kanadischen Unternehmens SNC-Lavalin den Sohn des ehemaligen libyschen Diktators bestochen, um an Bauaufträge zu gelangen. Weil Benaissa einen grossen Teil der Strafe bereits im Regionalgefängnis Bern abgesessen hatte, konnte die Auslieferung nach Kanada nun bereits anfangs Oktober 2014 durchgeführt werden.

Der Bruder von Riahd, Rafik Benaissa, bezeichnet die Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern als «System der psychischen Folter». Er hat im Januar 2014 in Kanada Klage gegen die Schweiz sowie gegen die zuständigen Bundesanwälte eingereicht.

Die Geschichte des Riahd Benaissas

Im April 2012 liess die Bundesanwaltschaft Riadh Benaissa in einem Genfer Hotel festnehmen. Als Vizepräsident soll dieser für den 8-Milliarden Dollar Konzern SNC-Lavalin in mehreren Staaten Beamte bestochen haben, um an Bauaufträge zu gelangen. In erster Linie ging es um Libyen, wo Benaissa Aufträge des früheren Diktators Muammar Gaddafi erkauft haben soll. Insbesondere zu Gaddafi-Sohn Saadi soll Benaissa engen Kontakt gehabt haben. Die für die Transaktionen benutzen Schweizer Konten waren auf Firmen mit Sitz in den British Virgin Islands registriert.

Nach neunundzwanzig Monaten Haft im Berner Regionalgefängnis wurde er nun vom Bundesstrafgericht in Bellinzona in einem abgekürzten Verfahren zu einer bedingten Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Diese prozessrechtliche Neuerung ermöglicht einen Deal zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person. Voraussetzung ist die Zustimmung des Beschuldigten zur Anklageschrift, was einem Schuldeingeständnis gleichkommt. Das abgekürzte Verfahren, das ohne Beweisverfahren vor Gericht auskommt, ist unter Juristen/-innen umstritten. Es ermöglicht der Staatsanwaltschaft, Druck auf die betroffenen Personen auszuüben und eine Vereinbarung zu erreichen, die keiner gerichtlichen Überprüfung standhalten muss.

Bereits kurz nach der Verurteilung wurde B. nach Kanada ausgeliefert, weil ihm die zweieinhalbjährige Untersuchungshaft angerechnet wurde. Die Auslieferung nach Kanada brachte  Benaissa aber keine Freiheit: Gleich bei seiner Ankunft wurde er verhaftet – der nächste Prozess in seinem Heimatland steht vor der Tür.

Die Wende im Fall Riahd Benaissa kommentiert sein Bruder mit folgenden Worten: „Mein Bruder hat das Geständnis einzig und allein darum unterschrieben, weil er unter diesen Haftbedingungen nicht mehr leben kann.“ 

Prekäre Haftbedingungen

Die Haftbedingungen im Berner Regionalgefängnis sind prekär: Abgesehen vom einstündigen Spaziergang hatte Riadh Benaissa keine Möglichkeit, mit anderen inhaftierten Personen in Kontakt zu treten. 23 Stunden am Tag war er in seiner Zelle eingeschlossen, die Mahlzeiten wurden ihm durch eine Essklappe in der Zelle serviert. Zweimal pro Woche hatte Benaissa die Gelegenheit zu duschen. Während den ersten vier Monaten durften ihn seine Frau und seine Töchter aufgrund von Kollusionsgefahr nicht besuchen, danach betrug die maximale Besuchszeit 45 Minuten, wobei die Kommunikation durch ein kleines Fenster stattfinden musste. Nur alle zwei Wochen durfte Benaissa einen Telefonanruf tätigen.

Rafik Benaissa wies zudem auf die problematischen Lichtverhältnisse in der Zelle seines Bruders hin: Einzig eine gelbe Lampe spende schwaches Licht. Nach über zwei Jahren Haft hätten sich die Augen seines Bruders so stark an die ständige Dunkelheit angepasst, dass er kein normales Licht mehr ertrage. Und im Sommer sei es in der Zelle so heiss geworden, dass er zur Kühlung den Boden mit Wasser überschwemmen musste.

Die Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern wurden in der Vergangenheit von verschiedener Seite kritisiert. So hat zum Beispiel das Berner Verwaltungsgericht in einem Entscheid vom 6. August festgehalten: «Der einstündige Spaziergang, nur in einem kleinen, von hohen Mauern umgebenen und mit Stacheldraht überdeckten Spazierhof ohne weitere Möglichkeiten, sich im Freien aufzuhalten oder zu betätigen, vermag bei längerer Haftdauer den Mindestanforderungen nicht zu genügen». Und die NKVF hielt nach ihrem Besuch im Regionalgefängnis 2011 fest: «Die Zellen entsprechen mit knappen 10m 2 nicht den baulichen Vorgaben des Bundes. Ausserdem sind die Zellen bei hohen Sommertemperaturen den Anforderungen einer angemessenen Durchlüftung kaum gewachsen.» Zudem sei die Zufuhr von Sonnenlicht im Spazierhof wegen der kleinen Dachöffnung ungenügend, was besonders schwerwiege, weil in den Zellen in der Regel kaum direkter Lichteinfall möglich ist.

    Psychische Auswirkungen des Haftregimes

    Rafik Benaissa ist besorgt über den Gesundheitszustand seines Bruders: Dieser habe während seiner Zeit in der Untersuchungshaft mehrmals geäussert, dass er lieber sterben wolle als weiterhin unter diesen Bedingungen inhaftiert zu bleiben. Seine Frau und sein Kind hätten zudem den Kontakt zu ihm abgebrochen und an der Beerdigung seines Vaters im 2013 durfte er nicht teilnehmen. Im Verlaufe der Zeit habe sein Bruder ein «Stockholm-Syndrom» entwickelt und war plötzlich der Überzeugung, dass die Gefängniswärter «sein Leben gerettet hätten». Humanrights.ch liegt ein Statement des Amerikanischen Psychiaters Booker Evans vor, der Riahd Benaissa im August 2013 besucht hat. Darin schrieb Evans: «Ich bin der Überzeugung, dass die geschilderten Haftbedingungen zu Depressionen und Angstzuständen führen und dass Riahd Benaissa, sollte er diese Zeit hier überleben, auf eine psychiatrische Behandlung angewiesen sein wird.»

    Rafik Benaissa glaubt, dass die Behörden seinen Bruder mit diesem «System der psychischen Folter» weichkochen wollten. Je länger er unter diesen Bedingungen inhaftiert bleibe, desto grösser wurde der Druck, ein Geständnis abzulegen. Dass die psychische Belastung im Regime der Untersuchungshaft für die Inhaftierten gross ist, ist auch daran ersichtlich, dass sich gemäss dem Bundesamt für Statistik in den letzten zehn Jahren 51 Untersuchungshäftlinge das Leben genommen haben. Dies ist im Vergleich zum normalen Strafvollzug eine deutlich überdurchschnittlich hohe Quote. 

    Klage gegen Lauber und die Schweiz vor kanadischem Gericht

    Anfangs 2014 hat Rafik Benaissa bei einem kanadischen Gericht gegen die Schweiz und die zuständigen Bundesanwälte Klage wegen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung eingereicht. Juristisch ist es eine einzigartige Konstellation, dass Schweizer Beamte vor einem ausländischen Gericht wegen in der Schweiz begangenen Menschenrechtsverletzungen angeklagt werden. Zuvor hatte Rafik Benaissa bereits in der Schweiz (Nichtanhandnahmeverfügung) und vor dem EGMR (nicht ausgeschöpfter Instanzenzug) erfolglos Beschwerden gegen die Haftbedingungen eingereicht.

      Die Menschrechtskonformität der Untersuchungshaft

      Generell besteht eine paradoxe Voraussetzung: Die Untersuchungshaft hat im Vergleich zum Strafvollzug ein deutlich strengeres Haftregime, obwohl für die Inhaftierten die Unschuldsvermutung gilt. Die Untersuchungshaft, die sich durch lange Einschlusszeiten und eine stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit auszeichnet, bietet den inhaftierten Personen praktisch keine Arbeitsmöglichkeiten oder Freizeitbeschäftigungen. Die NKVF sieht darin einen Widerspruch, der unter Berücksichtigung des eigentlichen Zweckes der Untersuchungshaft überprüft werden sollte. Deshalb hat sie dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) den Auftrag erteilt, eine Studie zur Konformität der restriktiven Haftbedingungen in der Untersuchungshaft, insbesondere im Lichte der Grundrechte und der Unschuldsvermutung zu erarbeiten. Die Publikation der Studie ist für Ende 2014 geplant.

      Einzelhaft als unmenschliche Behandlung

      Nach Auffassung des EGMR kann eine vollständige sensorische und soziale Isolation zu einer Zerstörung der Persönlichkeit führen, weshalb diese einer unmenschlichen Behandlung gleichkommt und eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt. Aber auch wenn diese Grenzen nicht missachtet werden, kann das Verbot der  Folter und der unmenschlichen Behandlung  verletzt sein. Dies ist dann der Fall, wenn ihre Anordnung oder Ausgestaltung im Einzelfall nicht gerechtfertigt werden kann, weil sie den Vorgaben des Verhältnismässigkeitsprinzips widerspricht. Relevante Faktoren für die Beurteilung sind gemäss der Praxis internationaler Organe die Dauer, der damit verfolgte Zweck, die konkrete Ausgestaltung der Untersuchungshaft sowie die individuellen Umstände der inhaftierten Person (z.B. Alter, Gesundheitszustand, Geschlecht).

      Dauer der Untersuchungshaft

      Hinsichtlich der Dauer der Untersuchungshaft ist in Art. 5 EMRK festgehalten, dass jede Person Anspruch hat auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Im Fall Shabani gegen die Schweiz hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine fünfjährige Untersuchungshaft als zulässig beurteilt. Es handelte sich um einen Fall der organisierten Kriminalität.

      Ob im vorliegenden Fall die neunundzwanzig Monate dauernde Untersuchungshaft sachlich gerechtfertigt war, darf bezweifelt werden. Um einer allfälligen Fluchtgefahr zu begegnen, hätte es mildere Mittel gegeben: So hätte man Benaissa den Pass entziehen und ihn mit einer Meldepflicht belegen können. Und auch eine Kollusionsgefahr scheint an den Haaren herbeigezogen: Ermittlungen, welche durch Benaissa beeinflusst werden könnten, müssten, um dem Beschleunigungsgebot gerecht zu werden, in den ersten paar Haftmonaten erledigt werden.

      Haftbedingungen

      Bei den Haftbedingungen stellt sich aus menschenrechtlicher Sicht zweitens die Frage nach der Vereinbarkeit der materiellen Haftbedingungen mit dem Folterverbot und dem Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäss Art. 1 und Art. 16 der UN-Antifolterkonvention, Art. 7 des UN-Paktes über politische und zivile Rechte und Art. 3 der EMRK. Massgeblich ist zudem Art. 10 des UN-Paktes über politische und zivile Rechte, der im Übrigen auch ein Recht auf menschenwürdige Haftbedingungen enthält.

      Gemäss den von der Schweiz, Österreich und Deutschland in deutscher Sprache herausgegebenen Empfehlungen des Europarates zur Untersuchungshaft müssen für Untersuchungsgefangene Bedingungen gelten, die ihrer Rechtsstellung entsprechen; dies beinhaltet, dass nur solche Beschränkungen auferlegt werden dürfen, die für die Rechtspflege, die Sicherheit der Einrichtung, der Gefangenen und des Personals sowie für den Schutz der Rechte Dritter erforderlich sind. Für die Ausgestaltung der Untersuchungshaft müssen also alle möglichen Vollzugslockerungen, die dem Ziel der Untersuchungshaft nicht zuwiderlaufen, gewährt werden.

      Zudem ist in den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen festgelegt, dass die Ausgestaltung des Vollzuges für Untersuchungsgefangene nicht dadurch beeinflusst werden darf, dass sie möglicherweise in der Zukunft wegen einer Straftat verurteilt werden. Untersuchungsgefangen ist etwa Gelegenheit zur Arbeit zu geben; sie dürfen (soweit in einem Einzelfall nicht ein konkretes, für einen festgelegten Zeitraum geltendes Verbot einer Justizbehörde vorliegt)  in der gleichen Weise wie Strafgefangene Besuche empfangen und mit ihrer Familie und anderen Personen in Verbindung treten; zusätzliche Besuche empfangen und zusätzlichen Zugang zu anderen Kommunikationsformen haben. Weiter ist Untersuchungsgefangenen der Zugang zu Büchern, Zeitungen und anderen Nachrichtenmedien zu gewähren.

      Bundesgericht zu den U-Haft Bedingungen

      Am 26. Februar 2014 hat das Bundesgericht erstmals eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Zusammenhang mit Hafteinrichtungen in der Schweiz festgestellt. In den beiden erfolgreichen Beschwerdefällen waren die Untersuchungshäftlinge in der Genfer Vollzugsanstalt Champ-Dollon während dreier Monate zu sechst in einer Zelle von 23 m2 uuntergebracht und dies täglich 23 Stunden lang. Diese gesamten Haftumstände verletzen gemäss Bundesgericht die Menschenwürde im Sinn von Artikel 3 EMRK, weil sie dem Verbot einer herabsetzenden oder unmenschlichen Strafe widersprechen.

      Die zur Verfügung stehende Fläche in Riahd Benaissas Einzelzelle ist zwar im Verhältnis etwa doppelt so gross. Allerdings sind bei einer längeren Dauer auch erhöhte Anforderungen an die Haftbedingungen zu stellen. Wie bereits erwähnt kann auch die Isolation an sich eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bedeuten.

      Kommentar humanrights

      Mit der Untersuchungshaft soll verunmöglicht werden, dass eine Strafuntersuchung vereitelt wird oder sich der oder die Angeschuldigte der Strafverfolgung entzieht. Ein 23-stündiger Zelleneinschluss, sowie die weiteren oben beschriebenen Haftbedingungen über eine so lange Dauer sind nicht notwendig, um diesen Zweck zu erreichen und sind als unverhältnismässig einzustufen.

      Die Vermutung, dass dieses restriktive Haftregime im Benaissa-Fall primär als Druckmittel missbraucht wurde, um ein Geständnis der inhaftierten Person zu erzwingen ist, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine solche Praxis ist rechtsstaatlich nicht zulässig: Für Personen in Untersuchungshaft gilt unabhängig vom Einzelfall und vermuteten Straftaten die Unschuldsvermutung.

      Die Behörden sind gefordert, diesem Prinzip Rechnung zu tragen, indem den Inhaftierten zum Beispiel mehr Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten und die Einschlusszeiten gelockert werden. Falls ein Untersuchungsgefängnis die nötigen baulichen Voraussetzungen für ein solches gelockertes Haftregime nicht aufweist, müssen Untersuchungsgefangene spätestens nach einigen Monaten in eine geeignete Institution überführt werden.

      Das Bundesgerichtsurteil zu den Haftbedingungen in Champ Dollon vom 26. Februar 2014 markiert eine Kehrtwendung und wird nicht ohne Einfluss bleiben, denn weitere Beschwerden von Gefängnisinsassen sind hängig.

      Dokumentation