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Erhebliche Einschränkung des Rechts auf inklusive Bildung

21.01.2025

Das Bundesgericht kommt im Dezember 2024 zum Schluss, dass die Vorinstanz bei der Beurteilung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf integrative Sonderschulung nicht gegen das Diskriminierungsverbot sowie das Recht auf Chancengleichheit verstösst. Es bestätigt, dass eine externe Sonderschulung in einer heilpädagogischen Schule den Bedürfnissen des Beschwerdeführers besser entspricht als eine integrative Sonderschulung in der Regelschule. Derzeit ist der Fall vor dem UNO-Kinderausschuss hängig

Der 10-jährige M. wurde seit März 2018 vom Heilpädagogischen Früherziehungsdienst begleitet. Nach der Diagnose frühkindlicher Autismus erhielt er verschiedene Fördermassnahmen, darunter Angebote im Rahmen von „Kita Plus“ sowie heilpädagogische Unterstützung. Im Januar 2021 beantragte die Schulleiterin seiner Regelschule eine separative Sonderschulung aufgrund einer vermuteten, jedoch nicht diagnostizierten Intelligenzminderung. Die zuständige kantonale Behörde ordnete ab August 2021 eine Beschulung in einer Heilpädagogischen Schule an.  

Die Eltern von M. legten dagegen Beschwerde ein und forderten eine integrative Beschulung an der Regelschule am Wohnort. Ihre Beschwerden wurden jedoch zunächst vom Bildungs- und Kulturdepartement und später vom Kantonsgericht abgewiesen.

Daraufhin reichten die Eltern am 2. Mai 2022 Beschwerde beim Bundesgericht ein. Sie rügten eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, eine willkürliche Feststellung des Sachverhalts sowie eine fehlerhafte bzw. willkürliche Rechtsanwendung. Das Bundesgericht bestätigte zwar den Ausschluss von der Regelschule, erkannte jedoch gleichzeitig die inklusive Bildung als Regelfall an und stellte fest, dass die Nichteinschulung eine Ungleichbehandlung darstellt.
Die fehlende Ratifizierung des Fakultativprotokolls zur UNO-Behindertenrechtskonvention verhindert eine Beschwerde beim zuständigen UNO-Ausschuss. Stattdessen haben die Eltern von M., unterstützt von Inclusion Handicap eine Beschwerde beim UNO-Kinderrechtausschuss eingereicht. Der Fall ist dort derzeit anhängig.

Autismus-Spektrum Störung (ASS)

Autismus-Spektrum-Störungen, zu denen das Asperger-Syndrom und der frühkindliche Autismus gehören, sind tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Sie zeichnen sich durch Beeinträchtigungen im sozialen Miteinander, eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten und stereotype Verhaltensweisen aus. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist vom frühkindlichen Autismus betroffen, wobei Jungen zwei- bis dreimal häufiger diagnostiziert werden als Mädchen.
Frühkindlicher Autismus tritt vor dem dritten Lebensjahr auf und zeigt sich in unterschiedlich stark ausgeprägten Merkmalen. Häufig sind sowohl die Intelligenz als auch die Sprachentwicklung beeinträchtigt und Betroffene haben erhebliche Schwierigkeiten bei sozialen Interaktionen.

Inklusive Bildung und die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen

Das Recht auf inklusive Bildung und Chancengleichheit ist ein zentraler Bestandteil der Menschenrechte und findet sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene verankerte Bedeutung. Nach Art. 24 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung und den Zugang zu einem integrativen Bildungssystem, das ihre individuellen Fähigkeiten fördert, die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht und ihre Menschenwürde stärkt. Diskriminierung im Bildungsbereich ist explizit untersagt, was bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen (Art. 24 Abs. 2 BRK). Der Zugang zu hochwertigem, integrativem Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen muss ihnen ebenso gewährt werden, wie die Bereitstellung angemessener Unterstützung und individueller Vorkehrungen zur Förderung ihrer erfolgreichen Bildung.

Diskriminierungsverbot und Gleichbehandlung in der Schweizer Bundesverfassung

Auch die Schweizer Bundesverfassung (BV) befasst sich mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen. Art. 8 Abs. 2 BV verbietet Diskriminierung aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung und schützt vor ungerechtfertigter Benachteiligung. Art. 8 Abs. 4 BV verpflichtet den Gesetzgeber zur Beseitigung faktischer Benachteiligung. Diese Bestimmung zielt darauf ab, allen Menschen gleiche Chancen und die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe zu gewährleisten. Der Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht gemäss Art. 19 BV stellt sicher, dass auch behinderte Kinder und Jugendliche Zugang zu Bildungsangeboten haben. Der Staat ist zudem für die Bereitstellung von Sonderschulplätzen verantwortlich.

Integration statt Ausgrenzung

Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und das Sonderpädagogik-Konkordat von 2007 fördern vorrangig die Integration von Kindern mit Behinderungen in die Regelschule. Gemäss Art. 20 BehiG sind die Kantone verpflichtet, integrative Massnahmen zu unterstützen, sofern dies dem Wohl des Kindes dient. Diese Vorrangstellung der inklusiven Sonderschulung beruht auf ihrer zentralen Rolle bei der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe und dem Abbau von Ausgrenzung, wie in Art. 8 Abs. 2 BV und Art. 20 Abs. 2 BehiG festgelegt. Gleichwohl besteht kein uneingeschränkter Rechtsanspruch auf Integration, da stets die individuellen Bedürfnisse und das Wohl des Kindes im Mittelpunkt der Entscheidung stehen.

Das Sonderpädagogik-Konkordat von 2007 unterstreicht ebenfalls die Bedeutung inklusiver Ansätze, indem es integrative Lösungen gegenüber separativen Massnahmen bevorzugt (Art. 2 lit. b). Im Kanton Luzern finden sich die entsprechenden Regelungen im Gesetz über die Volksschulbildung (VBG/LU), dass die integrative Beschulung fördert und separative Massnahmen nur dann vorsieht, wenn diese dem Wohl des Kindes besser gerecht werden. Ziel dieser Regelungen ist es, die Interaktion mit nichtbehinderten Gleichaltrigen zu erleichtern, Diskriminierung zu verringern und das gegenseitige Verständnis sowie die Vielfalt im Schulalltag zu stärken. Dadurch wird die gesellschaftliche Eingliederung von Kindern mit Behinderungen frühzeitig unterstützt.

Während die inklusive Schulbildung als Regelfall betrachtet wird, können Ausnahmen nur dann in Betracht gezogen werden, wenn die Umsetzung integrativer Massnahmen in der Regelschule nicht realisierbar ist. Entscheidungen zugunsten separativer Sonderschulungen bedürfen einer fundierten Begründung und müssen auf den spezifischen Bedürfnissen des Kindes basieren (Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes). Eine separative Massnahme ist unzulässig, wenn die erforderlichen Unterstützungsmassnahmen in der Regelschule erbracht werden können. Dennoch bleibt die Möglichkeit einer separativen Beschulung bestehen, wenn die Umsetzung der notwendigen Fördermassnahmen innerhalb des integrativen Rahmens nicht gewährleistet werden kann.

Missachtung des rechtlichen Gehörs und der Beweiswürdigung

Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) und kritisierte sowohl die Sachverhaltsfeststellung als auch die Beweiswürdigung der Vorinstanz. Das rechtliche Gehör garantiert, dass Personen in Verfahren vor staatlichen Instanzen ihre Anliegen wirksam vorbringen und die Entscheidungsgrundlagen beeinflussen können. Der Beschwerdeführer beanstandete eine Verletzung dieses Rechts, weil er der Auffassung war, die Vorinstanz habe seine Argumente nicht ausreichend berücksichtigt. Das Bundesgericht wies diese Rüge jedoch zurück, da die Vorinstanz die relevanten Punkte des Verfahrens ausreichend geprüft und nachvollziehbar begründet hätte.
Bezüglich der Sachverhaltsfeststellung stellte das Bundesgericht fest, dass die Vorinstanz die entscheidungsrelevanten Aspekte hinreichend geprüft und begründet hatte, insbesondere in Bezug auf die Zuweisung des Beschwerdeführers zu einer separativen Sonderschule aufgrund seines individuellen Förderbedarfs und seiner entwicklungsbezogenen Einschränkungen. Die Vorinstanz stützte sich auf einen schulpsychologischen Bericht und bewertete eine integrative Sonderschulung als nicht zielführend. Eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 24 BRK) oder anderer Rechtsvorschriften wurde nicht festgestellt, da die Entscheidung sachlich begründet und auf die spezifischen Bedürfnisse des Beschwerdeführers abgestimmt war. Weitere Abklärungen wurden als nicht erforderlich erachtet.

Bundesgericht weist den Fall ab – mit verehrenden Folgen 

In seiner Entscheidung stellte das Bundesgericht klar, dass inklusive Bildung in regulären Schulen grundsätzlich als die Norm anzusehen ist. Gleichzeitig erkannte es an, dass das Nichtaufnehmen eines Kindes in eine Regelschule eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung darstellt. Das Bundesgericht hielt die Argumentation der kantonalen Behörden, wonach im vorliegenden Fall eine angemessene Betreuung und Förderung in der Regelschule nicht gewährleistet werden könnte für „nachvollziehbar“, ohne eine weitergehende fachliche Prüfung vorzunehmen, die möglicherweise zu einer anderen Einschätzung geführt hätte.
Leider verpasste es das Bundesgericht, im Rahmen dieses Urteils konkreten Kriterien zu spezifizieren, welche eine Ausnahme von der Norm rechtfertigen könnten. Infolgedessen wies das Bundesgericht den Vorwurf der Diskriminierung durch die Vorinstanz zurück. Es wurde festgestellt, dass die spezifischen Bedürfnisse des Beschwerdeführers, wie etwa eine intensive individuelle Betreuung und ein strukturiertes Umfeld, möglicherweise besser durch eine externe Sonderschulung gedeckt werden könnten. Es sei nicht ersichtlich, dass verstärkte Massnahmen innerhalb der Regelschule ausreichen würden.
Indem das Bundesgericht auf eine eingehendere Prüfung verzichtete, schränkte es mit diesem Urteil den Anspruch auf inklusive Bildung erheblich ein. Dies hat zur Folge, dass viele Kinder mit Behinderungen weiterhin vom Unterricht in regulären Schulen ausgeschlossen bleiben.

Quellen

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
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