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Leugnung des Völkermords an den Armeniern (Fall Doğu Perinçek)

20.12.2007

Der Beschwerdeführer Doğu Perinçek hatte 2005 an Reden in Lausanne, Opfikon und Köniz öffentlich den Genozid von 1915 an den Armeniern im Osmanischen Reich geleugnet. Das Polizeigericht des Bezirks Lausanne sprach ihn dafür wegen Verstoss gegen Art. 261bis Abs. 4 Hälfte 2 StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 100 Franken und einer Busse von 3'000 Franken. Das Kantonsgericht Lausanne und das Bundesgericht wiesen die entsprechenden Beschwerden in allen Punkten ab.

(Artikel von Tarek Naguib)

Kurze Zusammenfassung

Das Bundesgericht hält im Entscheid, der am 19. Dezember 2007 veröffentlicht wurde, erstens fest, dass neben dem Holocaust auch andere Genozide von Abs. 4 erfasst seien. Der Wortlaut des Gesetzes nehme keinen ausdrücklichen Bezug auf ein bestimmtes historisches Ereignis. Konsultiere man die Materialien könne klar festgehalten werden, dass sich die Strafbestimmung nicht auf die Leugnung von Naziverbrechen beschränke, sondern auch andere Genozide mit umfasse, was zudem durch die Gerichtspraxis  bestätigt worden sei. Auch wenn die ursprüngliche Motivation für die Einführung des Tatbestands hauptsächlich darin bestanden habe, revisionistische Bestrebungen im Zusammenhang mit dem Holocaust zu verhindern, sei es der klare Wille des Gesetzgebers gewesen, den Tatbestand offen zu formulieren.

Das Bundesgericht ist zweitens der Ansicht, dass die Feststellung der Vorinstanzen, wonach das Massaker an den Armeniern tatsächlich als Genozid zu qualifizieren sei, nicht willkürlich sei. Das Polizeitribunal habe seine Überzeugung nicht nur auf die politische Anerkennung durch den Nationalrat gestützt, sondern auch auf der Basis der Meinung von Experten gebildet. Sowohl in politischer als auch wissenschaftlicher Hinsicht gäbe es einen Konsens über die Qualifikation der Tatsachen von 1915 als Genozid.  Demgegenüber habe der Beschwerdeführer seine Behauptung, es liege kein Konsens zwischen den Staaten und den Historikern vor, nicht belegen können. Konsens bedeute nicht Einstimmigkeit;  dass einzelne Historiker den Genozid bestreiten und gewisse Staaten es ablehnen, die Leugnung des Holocaust unter Strafe zu stellen, vermöge nichts an dieser Ausgangslage zu ändern.

Drittens geht das Bundesgericht auf die Frage des subjektiven Tatbestands ein, wo es auch keine willkürliche Auslegung des Polizeigerichts feststellen konnte. Für die Tatbestandsmässigkeit bedürfe es eines vorsätzlichen Verhaltens.  Dieser Vorsatz müsse durch einen Rassen diskriminierenden Beweggrund bestimmt sein.  Gemäss Polizeigericht liegt dieser beim Beschwerdeführer klar vor. Erstens habe der Beschwerdeführer - Doktor in Rechtswissenschaften, Politiker, Schriftsteller und Historiker - in voller Kenntnis der Sache gehandelt. Zweitens deklariere er, dass er nicht die Position ändern werde, sogar wenn eine neutrale Kommission eines Tages den Genozid als existent bezeichnen würde. Drittens formuliere er keinerlei Reue in dieser Sache. Das Bundesgericht hält zudem fest, dass bereits die Leugnung des Genozids einen Angriff auf die Identität der Mitglieder dieser Gemeinschaft konstituiere. Schliesslich fügt das Bundesgericht an, dass die Verurteilung nach Abs. 4 Hälfte 2 nicht davon abhänge, ob ein Genozid geleugnet werde. Auch die Leugnung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit sei strafbar.

Kommentar / Einschätzung

Das Bundesgericht klärt m.E. im Urteil drei wesentliche Aspekte, nämlich:

  1. Der Tatbestand in Art. 261bis Abs. 4 Hälfte 2 StGB ist offen für alle Genozide.
  2. Es ist nicht willkürlich, die Massaker an den Armeniern von 1915 als Genozid im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 Hälfte 2 StGB zu qualifizieren. Über die Einordnung als Genozid besteht politisch und historisch ein Konsens.
  3. Wer in Kenntnis handelt, dass sich ein Genozid zugetragen hat, und diese Tatsachen leugnet, handelt in der Regel Rassen diskriminierend.

Der letzte Punkt schien bis anhin zumindest teilweise umstritten. Der Gesetzestext von Art. 261bis Abs. 4 Hälfte 2 schränkt die Strafbarkeit des Leugnens, Verharmlosens oder Rechtfertigens von Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Zusatz «aus einem dieser Gründe» ein. Es wurde deshalb vereinzelt die Meinung vertreten, dass eine Leugnung sehr wohl auch aus nicht Rassen diskriminierender Motivation geschehen kann und mithin nicht strafbar sein muss.

Die Präsenz des Passus lässt sich wohl mit der Unsorgfalt des Gesetzgebers erklären.  Diese dadurch erzeugte Unsicherheit ist nun hoffentlich definitiv aus dem Wege geräumt: Weil es sich bei Völkermord um ein rassistisches Delikt handelt, d.h. um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das sich gegen eine nationale, rassische, ethnische oder religiöse Gruppe richtet, ist das Leugnen desselben in der Regel auch diskriminierend motiviert, auch wenn nicht explizit ein rassistisches Motiv, sondern beispielsweise bornierter Nationalismus oder Gewinnstreben dahinter steckt. Denn: beim Leugnen handelt der Täter in Kenntnis der Wahrheit und verneint diese, ist sich also auch bewusst, dass er die betroffene Gruppe in ihrer ethnisch-kulturellen Identität herabsetzt. Entweder ist diese Herabsetzung seine einzige Absicht oder er verfolgt darüber hinausgehende Absichten und nimmt die Herabsetzung zusätzlich in Kauf. Dies bedeutet, dass er aus einem Rassen diskriminierenden Motiv heraus handelt, wenn auch nicht zwingend ausschliesslich.

Verurteilung der Schweiz durch EGMR

Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde Perinçek zu Unrecht verurteilt.

Dokumentation

Weiterführende Informationen

  • 6B_297/2010 Wortlaut des Urteils in einem ähnlichen Fall vom 16.9.2010
  • BGE 129 IV 95
    Wortlaut des Urteils in einem älteren Fall vom November 2002
  • Siehe zum „Rechtsfall wegen Leugnung des Völkermords an den Armeniern“ eine Analyse von Rupen Boyadjian von der Gesellschaft Schweiz - Armenien (GSA), die sich für die Wahrung historischer Tatsachen und die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern engagiert.
  • Zur Rassendiskriminierung i.S.v. Art. 261bis StGB finden Sie hier eine rechtliche Übersicht von Marcel A. Niggli und G. Fiolka, Dezember 2004.
  • Dominique Exquis/Marcel A. Niggli, Recht, Geschichte und Politik, Eine Tragikomödie in vier Akten über das Rechtsgut bei Leugnung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 261bis Abs. 4 zweite Satzhälfte StGB).
    Zugleich Anmerkungen zu BGE 129 IV 95.
    AJP/PJA, 4/2005. 424-447.
    Besten Dank für das Einverständnis zur Online-Publikation. Es gilt die Druckversion.
    Humanrights.ch / MERS.