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Rechtsschutz für psychisch Beeinträchtigte: Schutzlücken und Herausforderungen in der Schweiz

23.06.2025

Trotz gesetzlicher Gleichstellungsrechte stossen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Schweiz im Alltag häufig auf rechtliche Hürden und Schutzlücken. Während psychische Beeinträchtigungen rechtlich als Behinderungen anerkannt sind, mangelt es insbesondere im Strafrecht und im privaten Bereich an wirksamen Durchsetzungsmöglichkeiten. Der effektive Diskriminierungsschutz bleibt damit oft Theorie – mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen.

Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen haben Anspruch auf Gleichbehandlung, Teilhabe und Schutz vor Diskriminierung. Dennoch werden sie im Alltag oft benachteiligt und stossen auf rechtliche Hürden, wenn sie ihre Rechte durchsetzen wollen. Der effektive Schutz dieser Rechte erfordert mehr als gesetzliche Garantien – er setzt eine umfassende Umsetzung und die Möglichkeit zur Rechtsdurchsetzung voraus.

Psychische Erkrankung als Behinderung

Was ist eine psychische Erkrankung?
Psychische Erkrankungen sind klinisch relevante Störungen, die das Denken, Fühlen oder Verhalten einer Person erheblich beeinträchtigen. Im Unterschied zu kurzzeitigen psychischen Belastungen erfordert eine psychische Erkrankung in der Regel eine Diagnose nach internationalen Klassifikationssystemen wie dem ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) oder dem DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen). Sie umfassen Krankheitsbilder wie Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, bipolare Störungen oder Substanzabhängigkeiten. Eine psychische Störung liegt definitionsgemäss vor, wenn sie zu einer deutlichen Beeinträchtigung wichtiger Funktionsbereiche führt – etwa im sozialen, beruflichen oder familiären Umfeld. Deswegen fallen auch die Autismus-Spektrum-Störung ASS und die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung ADHS unter psychische Erkrankungen. Beide sind im DSM-V beschrieben.

Rechtliche Einstufung als Behinderung
Die WHO definiert Behinderung als Beeinträchtigung körperlicher Funktionen oder Strukturen infolge eines gesundheitlichen Problems oder Unfalls. Sie schränkt die Fähigkeit ein, alltägliche oder soziale Aktivitäten auszuüben. Behinderung wird dabei nicht nur als medizinisches, sondern auch als soziales Problem verstanden. Sie kann sichtbar oder unsichtbar (wie im Falle psychischer Erkrankungen), vorübergehend oder dauerhaft sowie unterschiedlich ausgeprägt sein.
Rechtlich werden psychische Erkrankungen dann als Behinderung eingestuft, wenn sie voraussichtlich langfristig bestehen und die Fähigkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich einschränken. Dies ergibt sich sowohl aus der Definition der WHO als auch aus dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK, SR 0.109).
Die BRK spricht explizit von "langfristigen seelischen Beeinträchtigungen", die – in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Barrieren – eine gleichberechtigte Teilhabe behindern können (Art. 1 BRK). Entscheidend ist dabei nicht nur die individuelle Erkrankung, sondern sind auch die Umweltfaktoren, die eine Integration erschweren.

Rechtslage in der Schweiz

Die Schweizer Bundesverfassung (BV) schützt ausdrücklich vor Diskriminierung aufgrund einer "körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung" (Art. 8 Abs. 2 BV, SR 101). Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, SR 151.3) definiert Menschen mit Behinderungen als Personen, denen es wegen einer voraussichtlich dauernden körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung erschwert ist, alltägliche Verrichtungen vorzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich auszubilden oder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (Art. 2 BehiG). Psychische Erkrankungen wie schwere Depressionen oder chronische Angststörungen fallen daher – je nach Schweregrad und Dauer – unter den behinderungsrechtlichen Schutz.

Strafrechtlich besteht jedoch eine Lücke: Der Diskriminierungstatbestand (Art. 261bis StGB) erfasst psychische Erkrankungen und andere Erkrankungen oder Behinderungen nicht ausdrücklich. Öffentliche Abwertungen bleiben in der Regel straflos, es sei denn, sie erfüllen die Voraussetzungen einer Persönlichkeitsverletzung.
Der Staat ist verfassungsrechtlich verpflichtet, Diskriminierung zu verhindern und auch im privaten Bereich Schutz zu gewährleisten (Art. 35 BV). Das BehiG bietet Schutz bei Diskriminierungen durch Behörden oder konzessionierte Unternehmen, bietet aber im Privatbereich abgesehen von öffentlich angebotenen Dienstleistungen keinen Schutz. So bietet das BehiG im Falle von Diskriminierungen im Arbeitsleben zwischen Privaten keinen Schutz. Hier greifft nur das privatrechtliche Arbeitsrecht sowie der allgemeine zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz, der hohe Hürden mit sich bringt.

Rechtliche Anerkennung einer psychischen Erkrankung als Behinderung

In der Schweiz wird eine psychische Erkrankung dann als Behinderung im Sinne des Invalidenversicherungsrechts anerkannt, wenn sie zu einer voraussichtlich bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbsunfähigkeit führt. Dabei ist nicht allein die Diagnose entscheidend, sondern insbesondere die funktionelle Auswirkung der Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit. Dies gilt für alle Krankheiten. Im Falle von psychischen Krankheiten ist es besonders schwierig, die funktionellen Auswirkungen glaubhaft zu machen. Neuroneuropsychiatrische Störungen wie ASS oder ADHS von der IV oft nicht als psychische Erkrankung mit invalidisierendem Charakter anerkannt.

Für die Anerkennung einer psychischen Erkrankung und anderer Erkrankungen als Behinderung im sozialversicherungsrechtlichen Sinn sind mehrere Voraussetzungen zu erfüllen. Zunächst muss ein medizinisches Substrat vorliegen – das heisst, es muss eine fachärztlich fundiert diagnostizierte psychische Störung mit Krankheitswert bestehen, die über blosse Befindlichkeitsstörungen hinausgeht. Das Bundesgericht hat in BGE 127 V 294 klargestellt, dass psychosoziale Belastungen allein nicht ausreichen; erforderlich ist eine eigenständige psychiatrische Diagnose, wie etwa eine klinisch relevante, anhaltende Depression.
Zudem muss die psychische Erkrankung die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der betroffenen Person in erheblichem Mass beeinträchtigen. Eine blosse Diagnose genügt nicht, wenn daraus keine funktionellen Einschränkungen resultieren. In BGE 142 V 106 wurde hervorgehoben, dass entscheidend ist, ob der versicherten Person aufgrund ihres Leidens eine (teilweise oder vollständige) Erwerbstätigkeit nicht mehr zumutbar ist.
Weiter ist eine klare Abgrenzung zu psychosozialen Faktoren notwendig. Belastungen wie familiäre Konflikte oder Arbeitslosigkeit begründen für sich genommen keine Invalidität. Sie können jedoch berücksichtigt werden, wenn sie eine eigenständige psychische Erkrankung auslösen oder deren Auswirkungen verstärken. In BGE 141 V 281 wurde betont, dass psychosoziale Umstände nur dann relevant sind, wenn sie zu einer ausgewiesenen Beeinträchtigung der psychischen Integrität führen, welche sich negativ auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt.

Schliesslich erfolgt die Beurteilung psychischer Erkrankungen seit BGE 141 V 281 im Rahmen eines strukturierten Beweisverfahrens. Dabei werden die funktionellen Auswirkungen anhand standardisierter Indikatoren geprüft, wobei insbesondere Wert auf die Objektivierbarkeit und Konsistenz der festgestellten Einschränkungen gelegt wird. Diese Indikatoren werden in zwei Gruppen unterteilt: Erstens der funktionelle Schweregrad, der etwa durch eine therapieresistente Depression, chronifizierte Beschwerden, fehlende soziale Einbindung oder zusätzliche psychische Störungen (Komorbiditäten) belegt werden kann. Zweitens wird die Konsistenz der Einschränkungen geprüft, also ob die geschilderten Beeinträchtigungen mit dem tatsächlichen Verhalten übereinstimmen. Beispielsweise spricht für Konsistenz, wenn Betroffene weder im Alltag noch in der Freizeit aktiv sind, mehrere Eingliederungsversuche gescheitert sind und die Anamnese einen anhaltenden Leidensdruck zeigt. Nur wenn diese Indikatoren insgesamt ein stimmiges, objektivierbares Bild ergeben, wird eine erhebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit anerkannt.

Politische Diskussion und Entwicklungen in Bezug auf das BRK

In der Schweiz leben rund 1.9 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Politisch gewinnt die Thematik von psychischen Erkrankungen an Aufmerksamkeit: So hat der Bundesrat eine Strategie zur Behindertenpolitik 2023–2026 verabschiedet, welche eine Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) vorschlägt, um den Schutz von Menschen mit Behinderungen im Erwerbsleben zu stärken und Private zur Schaffung barrierefreier Dienstleistungen zu verpflichten. Zudem prüft der Bundesrat gesetzliche Massnahmen zur Förderung der gesellschaftlichen und öffentlichen Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Die Inklusionsinitiative des Vereins für eine inklusive Schweiz schlägt eine Änderung von Art. 8 BV vor, um einen Anspruch auf Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen sowie auf selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Behinderungen zu verankern. Schliesslich reichte Inclusion Handicap 2022 eine Petition zur Ratifizierung des Fakultativprotokolls zur UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK) ein; eine Stellungnahme des Bundesrates steht noch aus.

Unsichtbare Barrieren

Trotz der formellen Gleichstellung psychischer Beeinträchtigungen mit körperlichen Behinderungen bestehen in der Schweiz nach wie vor erhebliche Hürden für deren rechtliche Anerkennung und effektive Durchsetzung von Rechten. Zwar bieten Verfassung, Behindertengleichstellungsgesetz und internationale Konventionen wie die UN-BRK einen grundlegenden rechtlichen Rahmen, doch fehlt es in der Praxis an klaren Durchsetzungsmechanismen, insbesondere im Strafrecht und in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen. Die Anerkennung im sozialversicherungsrechtlichen Kontext (z.B. IV-Leistungen) ist besonders restriktiv: Sie erfordert nicht nur eine fachärztlich diagnostizierte Störung, sondern auch den Nachweis erheblicher funktioneller Einschränkungen, die objektivierbar und konsistent sein müssen. Belastungen rein psychosozialer Natur reichen nicht aus. Damit werden viele Betroffene trotz tatsächlicher Beeinträchtigung rechtlich nicht als Menschen mit Behinderung anerkannt, was ihren Zugang zu Unterstützungsleistungen und Schutzrechten massiv einschränkt.

Diese Schutzlücken zeigen, dass die bestehenden gesetzlichen Normen allein nicht genügen – es braucht eine konsequentere Umsetzung und Weiterentwicklung des Diskriminierungsschutzes für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Damit angesprochen sind auch die von der BRK erwähnten gesellschaftlichen Barrieren, die eine gleichberechtigte Teilhabe behindern können (Art. 1 BRK), also Umweltfaktoren, die die Integration erschweren. Auch diese Barrieren müssen abgebaut werden, indem Interventions- sowie Integrationsmassnahmen adäquat auf die Voraussetzungen der Betroffenen abgestimmt werden und darauf abzielen, bestehende Ressourcen zu stärken anstelle Defizite zu hervorzuheben.