15.07.2025
Am 28. Februar 2018 starb Mike ben Peter in Lausanne nach einer Polizeikontrolle. Polizisten wollten ihn wegen des Verdachts auf Drogenhandel festnehmen. Dabei kam es zu einem Einsatz von Pfefferspray und körperlicher Gewalt, in dessen Folge ben Peter in Bauchlage fixiert wurde. Mehrere Polizisten knieten und lagen minutenlang auf ihm in Bauchlage, in einer Position, die selbst in Polizeihandbüchern als lebensgefährlich beschrieben wird. Mike ben Peter erlitt einen Herzstillstand. Er verstarb am nächsten Morgen.
Die Angehörigen von Mike ben Peter wollten eine Aufklärung der Ereignisse und reichten eine Anzeige gegen die involvierten Polizisten ein. Der Prozess gegen die sechs beteiligten Polizisten fand Mitte Juni 2023 am Bezirksgericht Lausanne statt. Die Anklage lautete auf fahrlässige Tötung. Das Urteil erfolgte am 22. Juni 2023, worin alle angeklagten Polizisten freigesprochen wurden. Der Richter begründete den Freispruch mit den rechtsmedizinischen Gutachten, die mehrere Ursachen für Mike ben Peters Tod in Betracht zogen und der Tatsache, dass den Polizisten ein Fehlverhalten nicht nachgewiesen werden konnte. Die Familie hat Berufung gegen dieses Urteil eingelegt und überlegt sich, den Fall an den EGMR weiterzuziehen, sollte er vor Bundesgericht scheitern.
Der Tod von Mike ben Peter löste in der Romandie und darüber hinaus Proteste gegen rassistische Polizeigewalt aus. Der Fall reiht sich ein in eine Serie von Todesfällen Schwarzer Männer nach Kontakten mit der Waadtländer Polizei. Die mangelnde Strafverfolgung solcher Fälle und der Verdacht auf systemischen Rassismus innerhalb der Polizei führten zu einer öffentlichen Debatte über Polizeigewalt und Rassismus in der Schweiz. Schliesslich stellt sich die Frage, ob eine Staatsanwaltschaft – wie im vorliegenden Fall geschehen – gegenüber Polizisten des eigenen Kantons überhaupt unabhängig ermitteln und gegebenenfalls Anklage erheben kann. Denn diese beiden Instanzen arbeiten eng zusammen und hängen voneinander ab. Der Freispruch der Polizisten führte zu weiteren Protesten und Debatten über die Notwendigkeit von Reformen innerhalb der Polizei und der Justiz, insbesondere hinsichtlich der Verhältnismässigkeit polizeilichen Handelns, der Rolle von Rassismus in der Strafverfolgung und der Notwendigkeit unabhängiger Untersuchungen bei Fällen von Polizeigewalt.
Zentrale Anliegen und Forderungen rund um das Rechtsverfahren
Im Mittelpunkt des Rechtsverfahrens stehen mehrere zentrale Anliegen, die sowohl strafrechtlicher als auch gesellschaftspolitischer Natur sind. Ziel ist es in erster Linie, eine strafrechtliche Verurteilung der sechs Polizisten zu erreichen, die für den Tod von Mike ben Peter verantwortlich gemacht werden. Dabei geht es nicht nur um die persönliche Schuldfrage, sondern auch um die gerichtliche Feststellung, dass die gegen ben Peter angewandte Gewalt unverhältnismässig war und dass rassistische Motive eine Rolle gespielt haben. Darüber hinaus fordern die Hinterbliebenen eine angemessene Entschädigung für den Verlust und das ihnen zugefügte Leid.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Verfahrens betrifft die strukturelle Aufarbeitung polizeilichen und justiziellen Handelns. So soll der Prozess auch dazu beitragen, offenzulegen, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung von Fällen polizeilicher Gewalt nicht mit der nötigen Unabhängigkeit agiert. Ebenso wird kritisiert, dass die internen Sanktionsmechanismen innerhalb der Polizei unzureichend sind und kaum wirksam zur Rechenschaft ziehen. Diese strukturellen Mängel tragen aus Sicht der Kläger*innenseite dazu bei, dass es in der Schweiz nach wie vor eine faktische Straflosigkeit bei polizeilichem Fehlverhalten gibt.
Begleitet wird das Verfahren von dem zivilgesellschaftlichen Verein «Soutien à la Famille de Mike ben Peter», der 2023 gegründet wurde und sich neben der konkreten finanziellen Unterstützung von ben Peters hinterbliebenen Familie intensiv für die öffentliche Sichtbarkeit des Falls und für eine grundlegende Reform der Polizeikultur einsetzt. Ziel ist es, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Fälle rassistisch motivierter Polizeigewalt wie jenen von Mike ben Peter zu erhöhen und eine breitere Diskussion über systemische Probleme innerhalb der Polizei im Kanton Waadt anzustossen. Dabei geht es insbesondere um eine Kultur der Gewalt und des institutionellen Rassismus, die nach Ansicht des Vereins von den bestehenden Justizstrukturen nicht wirksam hinterfragt oder korrigiert wird.
Im Zentrum der politischen Forderungen stehen gesetzliche Reformmassnahmen, die auf eine strukturelle Veränderung des Polizeiwesens abzielen. Dazu gehört unter anderem das Verbot der Bauchlage als Fixierungstechnik bei Polizeieinsätzen, da diese besonders bei mehrgewichtigen oder gesundheitlich vorbelasteten Personen lebensgefährlich sein kann. Weitere Forderungen betreffen die Bekämpfung von Racial Profiling, die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Polizeibeschwerden, die Einführung eines Systems von schriftlichen Empfangsbestätigungen bei Personenkontrollen sowie die Stärkung disziplinarischer Sanktionen gegenüber übergriffigen Polizisten. Darüber hinaus setzt sich der Verein für eine grundsätzliche Abkehr vom rein repressiven Ansatz der Polizeiarbeit ein – zugunsten von mehr Dialog, Prävention und Deeskalation.
Der Gemeinderat von Lausanne hat bereits in mehreren Punkten gesetzgeberische Entscheidungen getroffen, die den Forderungen des Vereins entsprechen (Postulat Interdisons le plaquage ventral, Postulat «Pour une remise systématique de récépissé de la PML aux personnes contrôlées», Postulat «Introduction de la Bodycam au sein du corps de police»). Doch bisher ist keine dieser Massnahmen tatsächlich umgesetzt worden. Der Fall Mike ben Peter wird somit auch zu einem Symbol für die Kluft zwischen politischen Absichtserklärungen und konkretem behördlichen Handeln im Bereich der Polizeigewalt.
Widersprüche innerhalb des Rechtsverfahrens
Der Fall Mike ben Peter offenbart erhebliche Spannungen zwischen der offiziellen Bewertung polizeilichen Handelns und der öffentlichen Wahrnehmung. Die Freisprüche der beteiligten Polizisten trotz dokumentierter Gewaltanwendung und widersprüchlicher Aussagen werfen Fragen zur Verantwortlichkeit und zur Rolle der Justiz auf. Konkret haben sich im Rechtverfahren folgende Widersprüche gezeigt:
- Gewaltanwendung und Festnahmetechnik: Während der Festnahme wurde Mike ben Peter von sechs Polizisten überwältigt, mit Pfefferspray besprüht, in die Genitalien getreten und mehrere Minuten in Bauchlage fixiert. Obwohl diese Massnahmen dokumentiert sind und er während des Einsatzes bewusstlos wurde, kamen die Gerichte zum Schluss, dass die Beamten verhältnismässig gehandelt hätten. Kritiker*innen bemängeln, dass die Risiken der Bauchlage, insbesondere angesichts der Belastung durch das Gewicht von mehreren Personen, nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
- Rolle der Staatsanwaltschaft: Die Staatsanwaltschaft wurde für ihre Vorgehensweise kritisiert. Ursprünglich hatte sie Anklage wegen fahrlässiger Tötung erhoben, plädierte jedoch im Verlauf des Prozesses überraschend auf Freispruch. Diese Kehrtwende wurde als fragwürdig und als Zeichen mangelnder Entschlossenheit gewertet.
- Erinnerungslücken der Polizisten: Vor Gericht gaben die beschuldigten Polizisten an, sich an belastende Details nicht erinnern zu können, während sie entlastende Aspekte genau schilderten. Dieses selektive Erinnerungsvermögen wurde als unglaubwürdig und als Versuch gewertet, Verantwortung zu vermeiden.
- Gerichtsmedizinische Gutachten: Die Gerichte stützten sich auf Gutachten, die keine eindeutige Todesursache feststellen konnten. Es wurde argumentiert, dass der Tod multifaktoriell bedingt sei, unter anderem durch bestehende Herzprobleme und Stress. Kritiker*innen bemängeln, dass alternative Gutachten, die einen Zusammenhang zwischen der Polizeimassnahme und dem Tod sehen, nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
- Vorwürfe des Racial Profiling und systemischen Rassismus: Obwohl der Fall Parallelen zum Tod von George Floyd aufweist, betonten die Gerichte, dass kein Zusammenhang mit systemischem Rassismus bestehe. Dies wurde von vielen Beobachter*innen als Verharmlosung struktureller Probleme innerhalb der Polizei kritisiert.
CHRONOLOGIE
Mike ben Peter wird in der Nähe des Bahnhofs von Lausanne von sechs Polizisten festgenommen. Die Polizisten halten ihn mehrere Minuten lang in Bauchlage fest und schlagen ihn. Er verliert das Bewusstsein und stirbt am nächsten Morgen um 10.39 Uhr im Krankenhaus CHUV.
Juni 2018:
Mehrere Monate nach der Autopsie wird ben Peters Leichnam nach Nigeria überführt, wo seine Beerdigung in Abwesenheit seiner Frau und seiner beiden Kinder stattfindet, die nicht aus Spanien anreisen können.
August 2018:
Die ersten Ergebnisse der Autopsie werden veröffentlicht und zeigen, dass ben Peter nicht an einer Überdosis gestorben ist, wie die Medien mehrfach behauptet hatten.
Dezember 2019:
Die Anwält*innen beider Seiten fordern die Gerichtsmediziner*innen auf, ihren Bericht weiter zu präzisieren. Die Auswirkungen der Bauchlage - eine Position, die international als lebensgefährlich beurteilt wird - werden nur sehr zurückhaltend diskutiert. Erst das zusätzlich eingeforderte Gutachten kommt zum Schluss, dass der Herz-Atemstillstand, der ben Peters Tod verursacht hatte, «multifaktoriellen Ursprungs» sei.
23. Juli 2020:
Der Anwalt von Mike ben Peters Familie befragt erfolglos die Gerichtsmediziner*innen in der Hoffnung, eine genauere Aussage zum Zusammenhang der Bauchlage mit dem Versterben zu erhalten. Die Anwält*innen der Polizisten plädieren auf fahrlässige Tötung; der Anwalt von ben Peters Familie plädiert auf vorsätzliche Tötung durch Eventualvorsatz.
Das Kollektiv Kiboko, welches sich seit 2018 gegen Racial Profiling, Rassismus gegen Schwarze und Polizeigewalt engagiert, protestiert vor dem Büro, in dem die Befragung der forensischen Expert*innen stattfindet. Anschliessend versammelt sich das Kollektiv auf dem Place de la Palud in Lausanne. Die vier Forderungen werden zum ersten Mal vorgestellt und in einem offiziellen Brief an die Direktor*innen der Polizeidepartemente des Kantons Waadt (Frau Métraux) und Lausanne (Herr Hildebrand) gesendet.
August 2020:
Die Neutralität von Mike ben Peters Autopsiebericht wird in Frage gestellt: Es wird enthüllt, dass die forensische Expertin, die das Gutachten verfasst hat, das Leben mit einem Polizisten teilt und auch an der Polizeiakademie in Savatan unterrichtet. Der Anwalt von Mike ben Peters Familie beantragt Ablehnung dieser Gutachterin sowie auch der zweiten Gutachterin.
2000 Postkarten mit den vier Forderungen, die an Frau Métraux und Herrn Hildebrand gerichtet sind, werden gedruckt und verteilt. Frau Métraux antwortet, ohne sich für irgendwelche Handlungen zu verpflichten.
September 2020:
Eine fast identische allgemeine Antwort wird von Herrn Hildebrands Büro versandt.
Oktober 2020:
Der Staatsanwalt hat noch nicht über die Ablehnung der forensischen Sachverständigen entschieden, räumt jedoch ein, dass das erste Gutachten widersprüchliche Elemente enthält. Er ordnet ein neues Gutachten an.
Die sechs beteiligten Polizisten sind weiterhin im Dienst. Als Reaktion darauf beschliessen mehrere Kollektive, am 31. Oktober eine Demonstration gegen Polizeigewalt in Lausanne zu organisieren.
März und Juni 2021:
Die Antworten von Métraux und Hildebrand auf die Forderungen treffen ein. Sie beabsichtigen, nicht darauf einzugehen.
Juli 2021:
Kiboko und weitere zwölf Kollektive antworten mit einem offenen Brief.
30. August 2021:
Roger Nzoy Willhem wird von einem Polizisten getötet, womit sich die Zahl der Fälle, in denen Schwarze Menschen im Kanton Waadt von der Polizei getötet wurden, auf vier in fünf Jahren erhöht. Sein Tod folgt nicht nur dem von Mike ben Peter, sondern auch dem von Hervé Bondembe Mandundu am 11. November 2016 in Bex bei einem Polizeieinsatz in seinem Haus und dem von Lamin Fatty am 24. Oktober 2017 aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung in einer Polizeizelle in Lausanne.
Mai 2022:
Der neue Staatsanwalt, der für den Fall zuständig ist, muss in den nächsten Wochen entscheiden, ob er die Eröffnung der Untersuchung anordnet oder den Fall ad acta legt.
Anfangs 2023:
Nach endlosem Warten fällt die Entscheidung: Die Polizisten müssen sich wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten. Der Anwalt der Familie fordert hingegen eine Verurteilung wegen eventual-vorsätzlicher Tötung. Wenig überraschend plädiert der Verteidiger der Polizisten auf Freispruch, indem er argumentiert, dass Mike ben Peter auch ohne die Intervention hätte sterben können.
1. März 2023:
Fünf Jahre nach Mikes ben Peters Tod kann seine Frau Bridget und eines ihrer Kinder zum ersten Mal in die Schweiz reisen, um den Anwalt zu treffen und vor Ort in Lausanne Mike ben Peter zu gedenken. Gleichzeitig findet eine Gedenk-Demonstration statt.
10. Juni 2023:
In Lausanne findet eine Demonstration mit anschliessender Kundgebung für Gerechtigkeit für Mike ben Peter und gegen staatliche Gewalt statt.
12. Juni 2023:
Der Prozess gegen sechs beteiligte Polizisten beginnt vor dem Bezirksgericht Lausanne. Die Anklage lautet auf fahrlässige Tötung. Während den Verhandlungstagen vom 12. bis 19. Juni 2023 werden zahlreiche Zeug*innen, darunter Polizisten und medizinische Expert*innen, befragt. Die Umstände des Todes und das Verhalten der Beamten stehen dabei im Mittelpunkt.
22. Juni 2023:
Alle angeklagten Polizisten werden freigesprochen. Der Richter begründet den Freispruch mit den rechtsmedizinischen Gutachten, die mehrere Faktoren als Ursachen für den Tod von Mike ben Peter ausmachten, und damit, dass den Polizisten kein Fehlverhalten nachgewiesen werden konnte.
Juli 2024:
Das Berufungsgericht in Renens zeigt keine Bereitschaft, zentrale Problemfelder wie rassistische Motive (Racial Profiling), widersprüchliche Aussagen oder fehlerhafte Gutachten im Rahmen der Berufungsverhandlung zu thematisieren. Dazu gehören die mangelnde Unabhängigkeit und Kompetenz der rechtsmedizinischen Sachverständigen, die rassistische Dimension des Polizeieinsatzes (Racial Profiling), grosse Lücken in der Nachbarschaftsuntersuchung, Widersprüche in den Aussagen der Angeklagten und ihre offensichtliche Kollusion. Die Richter weigern sich, die ungerechtfertigte Gewalt der Schläge und die Härte während der Bauchlage anzuerkennen, obwohl Mike ben Peter sich nicht widersetzte, sondern lediglich versuchte, sein Leben zu retten.
Am Berufungsgericht wird der Freispruch der sechs Polizisten bestätigt.
März 2025:
Die Kläger*innen legen beim Bundesgericht Berufung ein.
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