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Invalidenversicherung: Die missachteten Rechte von Rentenbezügern/-innen

19.03.2013

Seit Jahren führen Medien, Politiker/innen und Private ausgiebig die Missbrauchsdebatte. Diese Debatte verstellt den Blick auf die Probleme der Betroffenen und die schweren Mängel in den Verfahren der Invalidenversicherung (IV), wie der Fall E.M. exemplarisch zeigt.

E.M. meldete sich bei humanrights.ch, weil er erfolglos um seine elementarsten Rechte kämpft. Nach einem Sanktionsentscheid der IV fehlt ihm das Nötigste: Seit vier Jahren lebt der Behinderte ohne Rente und überlebt nur dank seinem nächsten Umfeld, das ihn mit minimalsten Mitteln mitträgt. Der Fall dokumentiert die Verzweiflung eines Mannes, der sich von Gesellschaft und Staat verraten und verlassen fühlt.

IV-Stelle kennt kein Pardon und sanktioniert knallhart

Während zehn Jahren bezog E.M. eine IV-Rente. E.M. hat verschiedene medizinisch nachweisbare Leiden, die von aussen nicht auf Anhieb sichtbar sind, unter anderem ein orthopädisch belegbares chronisches Wirbelleiden. Sie zwangen E.M., im Jahre 1992 aus dem regulären Erwerbsleben auszuscheiden.

Zwei Zwischengutachten bestätigten in den Folgejahren den Rentenanspruch. 2008 erschien E.M. nicht zu einem Termin für ein weiteres Zwischengutachten. Er erlitt am Tag der Begutachtung einen Zusammenbruch wegen einer Angstattacke, wie E.M. erzählt. Er sagt, dass er aufgrund negativer Erfahrungen vor Arztbesuchen immer mit Angstzuständen kämpfe. Die wiederkehrenden Begutachtungen seien für ihn eine grosse Belastung gewesen. Nachvollziehbar ist diese Angst, da die Biographie von E.M. offenbar seit früher Kindheit von Strafen, Demütigungen und Zurückweisung geprägt ist.

Die zuständige IV-Stelle überging E.M.s Erklärungen und sistierte 2009 die Rente wegen schuldhaftem Verweigern einer Begutachtung (Art. 43 Abs. 3 ATSG). E.M. erhielt in der Folge keine IV-Rente mehr, obwohl die rentenbegründenden Tatsachen nie weggefallen sind.

«Vier Jahre wertvolle Lebenszeit verloren»

Nach der Einstellung der Rente 2009 war E.M. mittellos. Er hatte kein Vermögen, auf das er hätte zurückgreifen können. Sozialhilfe zu beantragen kam für ihn nicht in Frage wegen schlechter Erfahrungen. Bis heute ist er deshalb auf die Unterstützung seines nächsten Umfelds angewiesen und dadurch völlig abhängig: Er lebt bei seiner betagten Mutter. Zudem trägt ihn seine Frau mit, die ein paar hundert Franken AHV-Rente erhält.

Was ihm geschehen ist, sei «zutiefst unwürdig für eine humanitäre Nation», ihm sei «der Boden unter den Füssen weggezogen» worden und er habe durch den Entscheid der IV-Stelle «vier Jahre wertvolle Lebenszeit verloren», erklärt E.M. seine heutige Lage. «Die unsägliche, jeder Beschreibung spottende Belastungssituation» habe ihm und seiner Frau gesundheitlich schwer zugesetzt. Die Rentenaufhebung stelle eine «völlig unverhältnismässige wirtschaftliche Gewaltanwendung dar.»

Es folgte ein Briefwechsel zwischen E.M. und der zuständigen IV-Stelle, der bis heute andauert. Dieser zeugt von einem zerrütteten Vertrauen. Die IV-Stelle war nie bereit, dem behinderten Mann in irgendeiner Weise entgegenzukommen. E.M. musste sich neu bei der IV anmelden und bezog sich dabei auf seine der IV seit Jahren bekannten gesundheitlichen Schäden. Ein Facharzt, den E.M. nun zum ersten Mal aufsuchte, bescheinigte der IV-Stelle, dass sich die Leiden von E.M. noch verschlimmert hatten.

Das Recht auf ein faires Verfahren

Ungeachtet der Vorgeschichte forderte die IV-Stelle E.M. auf, sich einem eigenen, unabhängigen Gutachter, der BEGAZ GmbH im Kanton Baselland, zu stellen. E.M. war damit nicht einverstanden. Er stellte deshalb Antrag auf gütliche Einigung und schlug eine Untersuchung durch das Universitätsspital Basel (das seinen Fall nicht kennt) vor. E.M. machte in seinem Schreiben an die IV-Stelle unter anderem geltend, die BEGAZ GmbH sei nicht unabhängig, weil diese ihre Aufträge fast ausschliesslich durch kantonale IV-Stellen generiere. Er bezog sich dabei auf Medienberichte, wonach diese Abklärungsstellen in 9 von 10 Fällen im Sinne der IV entscheiden.

Das Bundesgericht hatte sich 2011 mit der Rechtmässigkeit der IV-Verfahren beschäftigt und befunden, dass Mängel bestehen. Die Einholung von Gutachten bei medizinischen Abklärungsstellen wie etwa der BEGAZ GmbH erachtete das Gericht grundsätzlich weiterhin als zulässig. Es forderte jedoch, dass die IV-Stellen nicht mehr selber entscheiden sollen, welche Abklärungsstelle einen Auftrag erhält. Die Auftragsverteilung müsse per Zufallsprinzip erfolgen. Das Gericht hielt auch fest, dass Gehörs- und Partizipationsrechte der versicherten Personen im Zuteilungsverfahren gestärkt werden sollten und einvernehmliche Lösungen zu suchen seien.

Der Bund hat im Frühjahr 2012 einige der Forderungen umgesetzt. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) richtete etwa eine Plattform ein, welche die Aufträge per  Zufallsprinzip zuteilt. Die IV-Stellen vergeben ihre Aufträge nun also nicht mehr nach eigenem Gutdünken. Weiterhin stehen aber nur 17 Abklärungsstellen überhaupt zur Auswahl und die Grosszahl der Ärzteschaft darf keine medizinischen Abklärungen im IV-Verfahren übernehmen.

Warum wird im Fall E.M. nicht eine gütliche Einigung gesucht?

Im Bereich der Partizipationsrechte der Betroffenen sind seit 2011 keine verfahrenstechnischen oder rechtlichen Anpassungen durch das BSV erfolgt. Die revidierten Weisungen des BSV erwähnen das Ziel einer einvernehmlichen Bestimmung der Gutachter mit keinem Wort. Die IV-Stellen selber haben offenbar nicht das geringste Interesse an mehr Partizipation der Betroffenen, wie das Beispiel E.M. zeigt, denn seine Bitte um eine Einigung in aller Güte überging die IV-Stelle.

Seine Erfahrungen hätten ihm «jegliches Vertrauen genommen, von der IV-Stelle noch in irgendeiner Weise fair oder menschlich behandelt zu werden», schreibt E.M.  Jeder dritte Satz sei eine Sanktionsandrohung. Betroffene erhielten den Eindruck, dass die IV-Stellen machen könnten, was sie wollen. Er sei überzeugt, dass es vielen Behinderten heute ähnlich gehe, nur könnten sie sich nicht wehren. E.M. versteht sich deshalb auch als Fürsprecher all dieser Leute, die keine Interessensvertreter/innen in der Politik hätten und nicht wüssten, an wen sie sich wenden können.

Beratung für den mühsamen Rechtsweg

E.M. kämpfte auch mit rechtlichen Mitteln, vorerst ohne Anwalt. Er legte gegen den Sanktionsentscheid seiner IV-Stelle Beschwerde ein. Das zuständige Gericht wies diese nach 1 ½ Jahren ab und befand, die Renteneinstellung sei ein legitimes Druckmittel. E.M. hätte Rekurs einlegen können, war sich aber über die Rekursfrist (1 Monat) nicht im Klaren. Unterstützt wurde er übrigens mit Rat und Tat von seinen Angehörigen. Nach missglückten Versuchen, Rechtshilfe zu erhalten (u.a. bei einer Behindertenorganisation in Zürich), hat E.M. nun einen Anwalt gefunden, der ihm zur Seite steht.

Der Fall zeigt, dass Betroffene ihre Rechte nicht kennen. Der Rechtsweg ist nicht genügend zugänglich und schwer zu handhaben. Die Betroffenen müssen sich allein zurecht finden. Die IV-Verfahren sind dermassen kompliziert und bergen unzählige Stolpersteine, dass nur Spezialisten/-innen wissen, was zu tun ist. Für Betroffene ist es deshalb nicht ratsam, gegen Entscheide der IV-Stellen vorzugehen, ohne sich durch erfahrene Juristen/-innen beraten zu lassen. Häufig scheitern Menschen mit Behinderungen schon bei der Suche nach einer geeigneten Rechtsberatung.

Entsprechende Beratung und teilweise auch Begleitung bietet Inclusion Handicap der Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz. Empfehlenswert sind zudem die Beratungsstellen von HEKS, die ihre Rechtsberatung seit einigen Jahren für Fälle im Bereich Sozialversicherungen geöffnet haben. Allerdings sind diese Stellen häufig personell schwach besetzt und kämpfen mit mangelnden Ressourcen, was den Betroffenen wiederum viel Geduld in oft ausweglos erscheinenden Situationen abverlangt.

Kommentar humanrights.ch

Festzuhalten bleibt: Behinderte haben dieselben Rechte wie alle andern Menschen. Auch wenn ihre Lobby schwach ist und ihre Ansprüche durch Missbrauchsdebatten von einigen Hetzern in Frage gestellt werden. Bund, Kantone, Gerichte und Verantwortliche bei den IV-Stellen sind verpflichtet, sich auch in den Dienst dieser Menschen zu stellen. Auf internationaler Ebene hält die UNO-Behindertenkonvention, welche die Schweiz zu ratifizieren gedenkt, die Rechte fest, welche in solchen Fällen in Frage gestellt sind. Dazu gehören u.a. das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz (Art. 28 Behindertenkonvention), der Schutz vor Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch (Art. 16 Behindertenkonvention) und die Gewährung einer möglichst unabhängigen Lebensführung (Art. 19). Die Schweizer Verfassung gewährt Behinderten darüber hinaus ein Recht auf ein faires Verfahren, wovon das rechtliche Gehör (Art 29 Abs 2 BV) und das Prinzip der „Waffengleichheit“ wichtige Bestandteile sind. Das Fairnessgebot (etwa in Art. 6 EMRK) gewährleistet auch, dass die Verwaltungsbehörde eine Rechtssache unvoreingenommen und unbefangen behandelt und zwar innert nützlicher Frist.

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