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Genugtuung für Straffällige wegen unzulässiger Haftbedingungen

28.08.2014

In der Romandie sind die Gefängnisse bekanntlich stark überbelegt und die Haftbedingungen entsprechend schlecht. In der Waadt wurde im November 2013 eine Klage zweier Straffälliger auf Genugtuung abgelehnt. Das Bundesgericht hat dieses Urteil im Juli 2014 revidiert und festgehalten, dass es entgegen der Ansicht des Kantonalgerichts nicht genügt, zur Wiedergutmachung lediglich die Widerrechtlichkeit der erlittenen Haftbedingungen festzustellen. Das Urteil könnte ein Wendepunkt in der Praxis der Behörden darstellen.

10 Tage in einer Zelle mit Dauerbeleuchtung

Zwei wegen Drogendelikten verurteilte Straftäter sassen in der Waadt während 7, respektive 10 Tagen in einer Zelle auf der Polizeiwache. Die dortigen Zellen haben keine Fenster, sind permanent beleuchtet und verfügen nur über eine sehr eingeschränkte Einrichtung zum Schlafen. Ausserdem sind das Recht auf Spaziergang im Freien sowie der Zugang zu Freizeitangeboten und medizinischer Versorgung beschränkt. Diese Bedingungen entsprechen nicht den gängigen Mindestanforderungen für den Freiheitsentzug und sind damit nicht im Einklang mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 3 EMRK).

Im Februar 2013 hatte sich das Bundesgericht mit der Frage befasst, welche Mindestanforderungen im Freiheitsentzug zu gewähren sind und damit den Weg frei gemacht für Genugtuungsklagen. Es stellte dabei fest, dass Platzmangel in einer Zelle eine Verletzung der EMRK darstellen kann. Diese Beurteilung bestätigte kurz darauf auch der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in einem französischen Fall (siehe hierzu: Wann verstösst die Überbelegung von Gefängnissen gegen die EMRK?).

Das Waadtländer Kantonsgericht, welches im November 2013 die Genugtuungsklagen der beiden auf Lausanner Polizeiposten untergebrachten Häftlinge bewertete, hielt es für unbestritten, dass die dortigen Haftbedingungen den Mindestvorgaben widersprechen. Dennoch hat es die beiden Klagen mit dem Argument abgewiesen, dass die Feststellung der Widerrechtlichkeit als Wiedergutmachung genüge.

Problematische Strategie der Behörden

Der Staatsanwalt, der vor dem Gericht gegen die Auszahlung der Genugtuung plädiert hat, argumentierte mit der «bescheidenen Dauer» der unzulässigen Haft und führte an, dass diese Tage nur einen winzigen Teil der Gesamtstrafe ausmachten. Zudem machte er Folgendes geltend: «Es ist nicht akzeptabel, dass die Öffentlichkeit den Eindruck erhält, wer eine Straftat begeht, erhält deshalb noch eine Genugtuung.»

Die Argumente des Staatsanwalts sind populistisch und wirken unbeholfen. Er weiss wohl, dass jede Person, selbst ein Straffälliger, zum Geschädigten werden kann, wenn die Haftbedingungen nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Der Staat hat die Pflicht, die Rechte der Inhaftierten auf menschenwürdige Haftbedingungen zu garantieren. Sind die nicht gegeben, besteht für den Häftling ein Recht auf Genugtuung. Würde dieses Recht nicht bestehen, wären Regeln über einzuhaltende Haftbedingungen nichts als Makulatur.

Der Blick auf die Praxis im Kanton Waadt zeigt, dass es den Behörden darum ging, einen Präzedenzfall zu verhindern: Im Kanton Waadt werden gemäss Medienberichten Verurteilte regelmässig auf Polizeiwachen untergebracht. Da das kantonale Gefängnis über eine Belegungsrate von 170 Prozent verfügt und diese offenbar aus Sicherheitsgründen nicht überschritten werden soll, verfolgen die Waadtländer Behörden nun die ebenso problematische Praxis, dass die Zellen auf den Polizeistationen bis zu 22 Tage für die Inhaftierung von Verurteilten benutzt werden können. Sie nehmen dabei in Kauf, dass die Mindestbedingungen für einen menschenwürdigen Haftaufenthalt nicht eingehalten werden können.

Zahlreiche Genugtuungsklagen befürchtet

Der Kanton fürchtete in den vorliegenden Fällen also die Folgekosten seiner problematischen Haftverwaltungs-Praxis. Hätte das Kantonsgericht den beiden Beschwerdeführer in einem Präzedenzfall eine Genugtuung zugesprochen, hätten zahlreiche andere Inhaftierte, die in Missachtung der Maximaldauer in den Zellen der Lausanner Polizeiwachen untergebracht worden waren, eine Genugtuung geltend machen können. Die Organisation Infoprison schreibt dazu: «Aus dem menschlichen Problem für die Inhaftierten und das Personal in den Gefängnissen wird die Überbelegung nun zu einer finanziellen und politischen Frage.»

Das Bundesgericht bestätigt in seinem Urteil vom Juli 2014 nun, dass die Bedingungen der Haft gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen haben. Entgegen der Ansicht des Kantonsgericht genüge es nicht, zur Wiedergutmachung
dieser Menschenrechtsverletzung lediglich die Widerrechtlichkeit der erlittenen Haftbedingungen festzustellen. Als Genugtuung sprach das Bundesgericht dem Betroffenen gemäss seiner Forderung 50 Franken pro Tag widerrechtlicher Haft zu, insgesamt 550 Franken.

Ob das Urteil einen Präzedenzfall für weitere finanzielle Genugtuungsklagen darstellt, bleibt ungewiss. Das Bundesgericht hielt fest, dass der Anspruch auf eine Geldleistung im vorliegenden Fall nicht generell ausschliesst, dass die kantonalen Behörden in ähnlichen Fällen eine andere Form der Wiedergutmachung gewähren können. Die Frage, wie eine solche aussehen könnte, liess das Bundesgericht ausdrücklich offen. 

Für Antonella Cereghetti Zwahlen, Vize-Präsidentin der Rechtsanwaltskammer des Kanton Waadts (OAV), ist dieses Urteil in vielerlei Hinsicht erfreulich: Einerseits sei der Staat in Zukunft gezwungen, die Mindeststandards für die Haftbedingungen einzuhalten, und andererseits zeige das Urteil, dass das Bundesgericht seine Rolle als Beschützer der verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte wahrnimmt.

Wichtige Schritte zur Verbesserung der Haftbedingungen

Angesichts der chronischen Überbelegung in den Gefängnissen im Waadt  besteht nach dem jüngsten Urteil die Angst, dass der Kanton Waadt nun mit zahlreichen Entschädigungsforderungen von weiteren Inhaftierten/Opfern konfrontiert wird. Gemäss Medienberichten wurden im Juni bereits an weitere Personen Entschädigungen entrichtet. Es ist jedoch schwierig abzuschätzen, wie viele Gefängnisinsassen ein Recht auf eine solche Kompensation geltend machen könnten. Gemäss dem amtierenden Präsidenten in Genf Jean-Marc Canicé, wäre die Bezahlung von Entschädigungen jedenfalls ein Mittel, um eine Veränderung der unerträglichen Situation in der Romandie herbeizuführen. Er hatte bereits im Mai 2013 sämtliche Anwälte und Anwältinnen dazu aufgerufen, alle Rechtsmittel auszuschöpfen, um die illegalen Haftbedingungen anzufechten und eine Genugtuung geltend zu machen.

Eine Aufforderung, die ihre Wirkung nicht verfehlt hat: Der Kanton Waadt hat daraufhin wichtige Schritte eingeleitet, um die Bedingungen in der Polizeihaft zu verbessern: Die Dauer des Spaziergangs wurde verdoppelt. Das Licht kann nun in der Nacht dank neuen Kameras ausgeschalten werden, die inhaftierten Personen werden mit einem Hygiene-Kit ausgestattet und der Zugang zur medizinischen Versorgung ist während 24 Stunden am Tag garantiert. Zudem wurden 200 neue provisorische Haftplätze geschaffen. Das jüngste Bundesgerichtsurteil zur Wiedergutmachung dürfte den Druck auf die Behörden weiter erhöhen.

Verrechnung der Gerichtskosten mit Genugtuungsansprüchen?

Im Oktober 2013 hatte die eidgenössische Rechtskommission eine parlamentarische Initiative zur Verrechnung der Gerichtskosten mit den Genugtuungsansprüchen eingereicht. Die Kommission anerkennt darin, dass im Falle von rechtswidrigen Zwangsmassnahmen, Entschädigungen ausgerichtet werden müssen (auch wenn es sich um Personen handelt, die letztlich verurteilt werden). Allerdings weist sie in der Initiative darauf hin, dass die Strafbehörden gemäss Art. 442 Abs. 4 StPO ihre Forderungen aus Verfahrenskosten mit Entschädigungsansprüchen der zahlungspflichtigen Partei aus dem gleichen Strafverfahren sowie mit beschlagnahmten Vermögenswerten verrechnen können. Dies führe dazu, dass der Staat einer Person, die eine Straftat begangen hat, für die sie auch verurteilt wurde, erst eine Entschädigung ausrichten muss, nur um sie danach zur Zahlung der ihr auferlegten Gerichtskosten aufzufordern. Dieser Zustand sei stossend und der Artikel müsse dahingehend geändert werden, dass jede Unklarheit bezüglich der Möglichkeit einer Verrechnung der Gerichtskosten auch mit allfälligen Genugtuungsansprüchen einer verurteilten Person auszuräumen ist.

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