Hier finden Sie eine Vertiefung der Rechtsgrundlagen und Prinzipen des Massnahmenvollzugs in der Schweiz. Für einen Überblick über den gesamten Justizvollzug oder eine Vertiefung der Rechtsgrundlagen und Prinzipen des Strafvollzugs verweisen wir sie auf die weiteren Artikel in diesem Dossier.
Für das Verständnis des Massnahmenvollzugs ist es zentral, die Zuständigkeiten im Bereich der Unterbringung zu klären. Grundsätzlich gilt:
- Das Gericht spricht ein Urteil auf Grundlage des Strafgesetzbuches (StGB) aus.
- Die Kantone sind gemäss Art. 372 StGB verpflichtet, die vom Gericht angeordneten Massnahmen zu vollziehen.
- Die Umsetzung erfolgt durch geeignete Einrichtungen, welche von den Kantonen errichtet und betrieben werden müssen.
Im Gegensatz zum Strafvollzug können Massnahmen auch von privatrechtlichen Anbietenden vollzogen werden. Dies ist bei stationären Suchttherapie-, Wohn- und Pflegeeinrichtungen der Fall. Staatlich betriebene Einrichtungen sind verpflichtet, betroffene Personen aufzunehmen. Privat geführte Einrichtungen arbeiten zwar häufig mit den Kantonen zusammen, sind aber rechtlich nicht verpflichtet, eine Person aufzunehmen. Letztlich tragen die Kantone die Verantwortung, sicherzustellen, dass ausreichend geeignete Plätze für die Durchführung der Massnahmen zur Verfügung stehen.
Anordnung von Massnahmen – Die Risikoeinschätzung
Eine Massnahme ist eine gerichtliche Anordnung, die zusätzlich zu einer Strafe verhängt oder in bestimmten Fällen auch allein angeordnet werden kann (Art. 56-65 StGB). Sie dient dazu, das Risiko zukünftiger Straftaten zu minimieren, wenn eine Strafe allein nicht ausreicht, um die betroffene Person von einer Wiederholungstat abzuhalten.
Ziel einer Massnahme ist nicht nur die Wiedereingliederung der betroffenen Person, sondern vor allem auch die Prävention weiterer Straftaten (Deliktprävention). Die Therapie innerhalb einer Massnahme fokussiert daher sowohl auf die zugrunde liegende psychische Störung oder Suchterkrankungen als auch auf die deliktbezogenen Risikofaktoren. Für die Beendigung oder Lockerung einer Massnahme ist nicht die vollständige Heilung entscheidend, sondern die nachweisbare Reduktion des Rückfallrisikos. Da die Therapie in einem Zwangskontext erfolgt, gelten besondere Regeln zur Melde- und Schweigepflicht.
Ein zentrales Paradox des Massnahmenvollzugs liegt in der Frage der Risikoverminderung durch therapeutische Intervention im Freiheitsentzug. Es handelt sich dabei immer um eine paradoxe Situation, da eine Person in einer freiheitsentziehenden Massnahme auf ein Leben, bzw. ein sozial verändertes Verhalten in Freiheit vorbereitet werden soll. Um den Erfolg einer Therapie zu bestimmen, muss beachtet werden, dass eine Therapie in einem isolierten und kontrollierten Umfeld stattfindet. Erfahrungen zeigen, dass Therapieformen, die ambulant durchgeführt werden, in der Regel wirksamer sind als stationäre. Der Transfer in den Alltag ist bei ambulanten Massnahmen besser gewährleistet. Stationäre Massnahmen müssen daher kritisch auf ihre tatsächliche Wirksamkeit im Hinblick auf nachhaltige Verhaltensänderung geprüft werden. Die zuständige Behörde prüft jährlich, ob und wann der*die Täter*in aus dem Vollzug der Massnahme bedingt zu entlassen oder die Massnahme aufzuheben ist (Art. 62d StGB).
Ein wesentlicher Bestandteil der Massnahmenanordnung und -überprüfung ist das forensisch-psychologische Gutachten. Dieses dient der Einschätzung des Rückfallrisikos und der individuellen Behandlungsbedürfnisse. Die drei Grundprinzipien einer risikoorientierten Behandlung sind:
- Das Risikoprinzip: Je höher das Rückfallrisiko einer Person eingeschätzt wird, desto intensiver sollte die Behandlung gestaltet werden.
- Bedarfsprinzip: Die Behandlung richtet sich gezielt auf die rückfallrelevanten Problembereiche der Person aus (z. B. Sucht, Gewaltverhalten, Impulskontrolle).
- Ansprechbarkeitsprinzip: Die eingesetzten Methoden und Therapien müssen auf die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten der betroffenen Person abgestimmt sein.
Oft werden zur Einschätzung des Rückfallrisikos und des Interventionsbedarfs standardisierte Datenerfassungsinstrumente eingesetzt. Diese stützen sich auf verschiedene Datensätze wie Aktendokumentation, explorative Gespräche mit der betroffenen Person, Fremdauskünfte (z. B. Bezugspersonen, Fachstellen) und standardisierte Risiko-Assessment-Tools (z. B. HCR-20, PCL-R, ROS).
Vollzug von Massnahmen
Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) sieht verschiedene Massnahmentypen vor. Diese dienen der Behandlung, Sicherung und Resozialisierung von straffällig gewordenen Personen. Dabei kann zwischen therapeutischer Massnahme, Suchtbehandlung, Verwahrung und den anderen Massnahmen (z. B. Fahrverbot, Tätigkeitsverbot, Landesverweisung) unterschieden werden.
Bei den therapeutischen Massnahmen wird ausserdem zwischen stationären und ambulanten Formen unterschieden. Im Gegensatz zur stationären Massnahme gilt bei der Verhängung einer ambulanten Massnahme und einer Strafe die Massnahme als unabhängig zu vollziehende Sanktion. Das bedeutet, dass von Fall zu Fall von dem Gericht entschieden werden muss, ob die ambulante Massnahme zugunsten der Freiheitsstrafe aufgeschoben oder als vollzugsbegleitend in einer Strafanstalt durchgeführt wird. Ob eine Massnahme stationär oder ambulant verordnet wird, kommt auf die Einschätzung verschiedener Aspekte, wie die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, das Krankheitsbild und die Art der Betreuung bzw. der Therapie an (vgl. Ausführungen zur Anordnung einer Massnahme). In der Einschätzung dieser Aspekte kommt den Gerichten bedeutende Entscheidungsmacht zu.
Stationäre therapeutische Massnahmen
Die stationären therapeutischen Massnahmen sind in den Artikeln 59 bis 62 StGB geregelt. Sie kommen zur Anwendung, wenn eine Sucht- oder psychische Erkrankung mit der begangenen Straftat in Zusammenhang steht, und davon auszugehen ist, dass weitere vergleichbare Straftaten begangen werden.
Stationäre Massnahme bei schwerer psychischer Störung (Art. 59 StGB)
Wenn eine Straftat in Verbindung mit einer schweren psychischen Störung steht wie z.B. einer Psychose, Schizophrenie oder einer Persönlichkeitsstörungen, ist die Voraussetzung für die Anordnung einer stationären Massnahme nach Artikel 59 StGB erfüllt. Dabei muss es sich bei der begangenen Straftat nicht um ein schweres Delikt handeln, da bei der Anordnung wie der Verlängerung die Wahrscheinlichkeit zur Begehung zukünftiger Straftaten im Vordergrund steht. Die Behandlungswilligkeit ist in diesem Fall nicht ausschlaggebend für dessen Anordnung.
Ziel einer stationären Massnahme nach Artikel 59 StGB ist der Schutz der Öffentlichkeit sowie die Verhinderung von Rückfällen. Dabei ist die Gefährlichkeit der Tatperson für die Allgemeinheit entscheidend zur Anordnung.
Dauer und Verlängerung:
- Maximaldauer: 5 Jahre
- Unbeschränkte Verlängerbarkeit in 5-Jahres-Schritten (Art. 59 Abs. 4 StGB), wenn die Fortführung der Massnahme als erforderlich erscheint und die Risikoeinschätzung zur Begehung weiterer Straftaten negativ ausfällt.
- Der Vollzug kann daher deutlich länger als die ursprüngliche Freiheitsstrafe dauern
humanrights.ch setzt sich mit einem besonderen Fokus mit dieser auch «die kleine Verwahrung» genannten Massnahme auseinander. Hier finden Sie eine Analyse aus menschenrechtlicher Sicht.
Stationäre Massnahme bei Abhängigkeit (Artikel 60 StGB)
Diese stationäre Massnahme betrifft Abhängigkeiten wie Alkohol, Drogen, Medikamente, Glücksspiel etc. Die verurteilte Person mit einer solchen Massnahme wird in eine suchtspezifische Einrichtung oder eine psychiatrische Klinik mit entsprechender Fachabteilung eingewiesen. Grundsätzlich ist eine Behandlungswilligkeit der betroffenen Person erforderlich, da sie Voraussetzung für den Therapieerfolg ist.
Dauer und Verlängerung:
- Maximal: 3 Jahre
- Einmalige Verlängerung um ein Jahr möglich
Stationäre Massnahme für junge Erwachsene (Art. 61 StGB)
Auch kann eine stationäre therapeutisch Massnahme angeordnet werden, wenn sie als eine Sanktion für eine Person zwischen 18 und 25 Jahren mit einer «erheblich gestörten» Persönlichkeitsentwicklung dient. Da in dieser Altersgruppe einerseits die Delinquenzbereitschaft verhältnismässig hoch, andererseits die Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, soll mit einer stationären therapeutischen und sozialpädagogischen Massnahmen die sozialen Kompetenzen der betroffenen Person verbessert werden.
Ambulante therapeutische Massnahmen (Art. 56, 57, 63, 63a/b StGB)
Eine ambulante Massnahme wird angeordnet, wenn eine Strafe allein nicht als genügend eingestuft wird, eine stationäre Behandlung aber nicht notwendig ist. Für deren Vollzug sind die Bewährungshilfen oder die kantonalen Vollstreckungsbehörden zuständig.
Die Voraussetzungen für die Anordnung einer ambulanten Massnahme sind ähnlich wie bei einer stationären: Die begangene Straftat muss im Zusammenhang mit einer schweren psychischen Störung oder einem Suchtverhalten stehen, die Anordnung erfolgt jeweils gestützt auf ein forensisch-psychiatrisches Gutachten. Eine ambulante Massnahme kann jedoch nicht nur im Falle eines Vergehens oder Verbrechens, sondern auch bei einer Übertretung angeordnet werden.
Dauer und Verlängerung:
- Grundsätzlich 5 Jahre
- Bei Suchterkrankungen: nicht verlängerbar
- Bei psychischen Störungen: verlängerbar, solange therapeutisch als notwendig eingestuft
Ist mehr als eine Massnahme geeignet, wird jene gewählt, welche die betroffene Person «am wenigsten beschwert» (Art. 56a StGB). In diesem Zusammenhang geht die ambulante Massnahme immer einer stationären vor. Wenn zur erfolgreichen Rückfallprävention mehrere Massnahmen als notwendig eingeschätzt werden, können auch mehrere gleichzeitig angeordnet werden. Es sollte dabei darauf geachtet werden, dass die Einrichtung über angemessene Behandlung für alle angeordneten Massnahmen verfügt.
Verwahrung (sichernde Massnahme, Art. 64 StGB)
Die Verwahrung ist keine therapeutische, sondern eine sichernde freiheitsentziehende Massnahme. Sie ist auf unbestimmte Zeit angeordnet und verfolgt primär das Ziel des Schutzes der Öffentlichkeit. Die Verwahrung ist grundsätzlich zeitlich unbefristet und damit schuldüberschiessend, d.h. sie hat nicht den Strafcharakter einer schuldangemessenen Strafe im Strafvollzug. Denn Hauptziel einer Verwahrungsmassnahme ist der Schutz der Gesellschaft, also die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, durch die Sicherung der Tatperson. Da die Verwahrung starke Eingriffe in verschiedene Grundrechte einer Person bedeutet, sollte sie nur ultima ratio angeordnet werden.
humanrights.ch und die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) verweisen regelmässig auf menschenrechtlich problematische Praktiken im Verwahrungsvollzug.
Ordentliche Verwahrung (Art. 64 Abs. 1 StGB)
Der Vollzug einer ordentlichen Verwahrung findet in einer geschlossenen Strafanstalt oder einer Massnahmenvollzugseinrichtung statt. Die Freiheitsstrafe muss bei einer ordentlichen Verwahrung vor dem Antritt der Verwahrung vollständig verbüsst worden sein. Die direkte Aufhebung der ordentlichen Verwahrung bzw. Entlassung der Person ist nicht möglich. Die ordentliche Verwahrung wird entweder zuerst in eine stationäre, therapeutische Massnahme umgewandelt oder aber es wird eine bedingte Entlassung angeordnet.
Anordnungsvoraussetzungen:
- Vorliegen einer Anlasstat gemäss Art. 64 Abs. 1 (z. B. Mord, vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Raub, Geiselnahme, Brandstiftung, Gefährdung des Lebens)
- Vorliegen einer Straftat bei der «psychische, sexuelle oder physische Integrität» einer anderen Person verletzt worden ist
- Rückfallgefahr wird als hoch eingestuft
Wenn die Tat mit einer psychischen Störung in Zusammenhang steht, ist die Anordnung einer Verwahrung nur zulässig, wenn die Erfolgschancen einer stationären Massnahme (nach Art. 59) ausgeschlossen werden.
Nachträgliche Anordnung einer ordentlichen Verwahrung
Bei der ordentlichen Verwahrung gibt es auch die Möglichkeit, dass sie nicht während dem Strafverfahren, sondern in einem sogenannten Nachtragsverfahren angeordnet wird. Dies kann der Fall sein, wenn während des Vollzugs der Freiheitsstrafe neue Tatsachen oder Beweismittel, welche die Voraussetzungen für eine ordentliche Verwahrung erfüllen, auftauchen. In einem solchen Szenario kann nachträglich eine Korrektur eines fehlerhaften Urteils zu Ungunsten der Tatperson angeordnet werden. Ausserdem kann auch eine stationäre Massnahme in eine ordentliche Verwahrung umgewandelt werden. Wenn keine massgebliche Verminderung der Rückfallgefahr während des Vollzugs einer jahrelangen stationären Massnahme anzunehmen ist, kann diese aufgehoben werden und stattdessen eine ordentliche Verwahrung angeordnet werden.
In Bezug auf die unzulässige Anordnung einer nachträgliche Verwahrung ist die Schweiz bereits zweimal vom EGMR verurteilt worden (W.A. gegen die Schweiz, 2021/ M.A. gegen die Schweiz, 2024)
Lebenslange Verwahrung (Art. 64 Abs. 1bis StGB)
Bei der lebenslangen Verwahrung handelt es sich um eine Massnahme, zu deren Anordnung (und Beendigung) strengere Voraussetzungen erfüllt sein müssen als für eine ordentliche Verwahrung. Beispielsweise haftet der zuständige Kanton oder Institution für den Schaden, der bei einem Rückfall im Falle einer Entlassung einer lebenslang verwahrten Person entsteht (Art. 380 StGB). In dieser Massnahme sind Vollzugsöffnungen grundsätzlich ausgeschlossen.
Anordnungsvoraussetzungen:
- Vorliegen einer Anlasstat gemäss Art. 64 Abs. 1 kumulativ zu/sowie die Verletzung der psychischen, sexuellen oder physischen Integrität einer anderen Person
- Rückfallgefahr wird als «sehr hoch» eingestuft
- Einschätzung der Tatperson als lebenslang «untherapierbar»
In der aktuellen Rechtsprechung bezüglich lebenslanger Verwahrung werden grundsätzlich Berufungen gutgeheissen. Bisher gibt es nur eine einzige Anordnung einer lebenslänglichen Verwahrung in der Schweiz.
humanrights.ch setzt sich zusammen mit engagierten Anwält*innen u.a. mit strategischer Prozessführung für das sogenannte Distanzgebot ein, das eine vom Normalvollzug getrennte und weniger restriktive Unterbringung von Verwahrten verlangt.
Allgemeine Quellen
- Das schweizerische Vollzugslexikon, (Brägger Hrsg.) 2022, 2. Auflage.
- Strafvollzug, Baechtold (et. al) 2016, 3. Auflage.
- Schweizerisches Kompetenzzentrum für den Justizvollzug
- humanrights.ch

