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Ein Vergehen gegen die Menschenrechte: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen nach altem Recht

19.08.2011

Bis in die 1980er Jahre gingen die Behörden im Namen von Moral und Ordnung mit einschneidenden Massnahmen und relativ willkürlich gegen Personen vor, deren Lebensweise nicht den gängigen Vorstellungen entsprach. Die Betroffenen konnten sich weder zu den Vorwürfen äussern, noch verfügten sie über Rechtsmittel, um sich gegen die Massnahmen zu wehren. Die Einweisungen und Versorgungen erfolgten entweder nach kantonalem öffentlichem Recht, nach Zivilgesetzbuch oder nach Art. 89ff. des alten Strafgesetzbuches. Je nachdem, worauf sich ein entsprechender Behördenentscheid abstützte, wurden die Opfer bis zu drei Jahre oder auf unbestimmte Zeit in einer Strafanstalt «versorgt». 

Die EMRK zwang zur Praxisänderung

Erst mit Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1974 sahen sich die Behörden gezwungen, die Praxis, die in massiver Weise in die Freiheit der Betroffenen eingriff, zu überdenken und die Grundrechte dieser Personen ernster zu nehmen. Dank der EMRK standen fortan jedem und jeder Person in der Schweiz Verfahrensrechte zu, die die Behörden einhalten mussten. So waren sie gezwungen nun etwa das Recht auf ein faires Verfahren, welches die EMRK in Artikel 6 festhält, zu beachten.

1981, sieben Jahre nach der Ratifikation der EMRK durch die Schweiz, wurden deshalb die Bestimmungen über den fürsorgerischen Freiheitsentzug (FFE) in das Zivilgesetzbuch eingeführt. Auf der Basis dieses Gesetzes konnten die Behörden zwar auch weiterhin Personen gegen ihren Willen und zu ihrer Sicherheit einsperren lassen, doch nun legte ein Gesetz die Bedingungen fest, unter welchen ein solcher Eingriff in die Grundrechte eines Menschen rechtens war. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass Zwangseinweisungen nun weniger willkürlich und zudem immer in eine psychiatrische Einrichtung erfolgten.

Unterschiedliche Personengruppen

Betroffen von willkürlich angeordneten, oft unprofessionell durchgeführten und mangelhaft überprüften Massnahmen der Behörden bis 1981 waren ganz unterschiedliche Personen. Sie gehörten im Falle der «Kinder der Landstrasse» einer ethnischen Minderheit an (die Jenischen), waren Randständige (Alkoholiker/innen, Drogenabhängige, in Armut lebende, Prostituierte) oder fielen in ihrer Gemeinde auf andere Weise auf (z.B. ledige Mütter).

All diese Personengruppen wurden unter moralischen Kategorien wie «arbeitsscheu»  oder «liederlich» abgeurteilt. Die Behörden ordneten in solchen Fällen immer wieder drastische Massnahmen an, wie Zwangskastrationen und -sterilisierungen, Kindswegnahmen mit anschliessender Adoption, Fremdplatzierungen oder Einweisungen in Heime und Strafanstalten.

Die Menschenrechtsverletzungen, welche die Verantwortlichen in Kauf nahmen, sind zahlreich - dazu gehören Verletzungen der körperlichen Integrität, des Rechts auf Freiheit und Sicherheit, des Rechts auf ein Privat- und Familienleben oder des Rechts auf ein faires Verfahren.

Administrativ Versorgte: Zahlen und Fakten

Besondere Aufmerksamkeit erlangten ab ca. 2009 die jungen Frauen unter den «administrativ Versorgten». Die Massnahme des Wegsperrens gegen den Willen der Betroffenen tangierte in der grossen Mehrzahl zwar männliche Erwachsene; doch bisweilen verhängten die Behörden eine administrative Versorgung auch gegenüber weiblichen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren.

Bis weit in die 70er Jahre haben kantonale oder kommunale Behörden immer wieder minderjährige Frauen ohne Gerichtsurteil ihrer Freiheit beraubt und sie als erzieherische Massnahme in die Frauenstrafanstalt Hindelbank eingewiesen. Faktisch unterlagen die Betroffenen im Gefängnis demselben Regime wie strafrechtlich verfolgte Täterinnen und Täter, mit dem wesentlichen Unterschied, dass sich administrativ Versorgte im Gegensatz zu Kriminellen nicht auf ein Gerichtsurteil beziehen konnten und den Behörden schutzlos ausgeliefert waren, auch in Bezug auf die Dauer der Massnahme.

Wie viele Menschen von einer administrativen Versorgung betroffen waren, ist bisher kaum erforscht - auch weil die Quellenlage schwierig ist. Einzig für den Kanton Bern liegen Zahlen vor: Hier sind es zwischen 1942 und 1981 2'700 Personen gewesen, welche aufgrund von kantonalem öffentlichem Recht versorgt wurden (Quelle: www.administrativ-versorgte.ch unter Berufung auf die Historikerin Tanja Rietmann, welche eine Dissertation zum Thema erarbeitet).

2014 hat der Bund den Auftrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Administrativ Versorgten gegeben (zur aktuellen Entwicklung auf politischer Ebene siehe: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Der lange Weg zur Wiedergutmachung).

Zwangssterilisierte und Verdingte

Die Behörden haben wie erwähnt neben administrativen Versorgungen auch noch zahlreiche andere weitgehende Massnahmen angeordnet, wie Zwangssterilisationen und -kastrationen oder die Fremdplatzierung von Kindern.

Gut aufgearbeitet ist das Schicksal von fremdplatzierten Kindern im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse». In den vergangenen Jahren haben zudem Ausstellungen und Bücher über das Schicksal von Verdingkindern informiert. Eine Studie aus dem Kanton Bern zeigt, dass in einigen Gemeinden die Behörden Kindswegnahmen regelmässig als Mittel im Kampf gegen die Armut veranlassten. Anstatt mehr oder weniger intakte Familien per Armenhilfe finanziell zu unterstützen, zogen es die Behörden vor, die Familien auseinanderzureissen und die Mütter und/oder Väter für die Heimkosten, welche ihre Kinder verursachten, hart arbeiten zu lassen. Ein Besuchsrecht hatten die Eltern oft nicht.

Berichte von Betroffenen, die im Beobachter veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass es den Behörden oft gleichgültig war, unter welchen Umständen die Kinder in den Heimen leben mussten.

Wiedergutmachung lief lange harzig

Vereinzelt entschuldigten sich Kantonsvertreter/innen und heutige Amtsinhaber/innen für das erlittene Leid bei Betroffenen. Einige wenige Institutionen oder Gemeinden haben zudem auf öffentlichen Druck hin unabhängige Untersuchungen angekündigt. Doch von finanzieller Entschädigung für die erlittene Qual waren betroffene Familien und Personen in der Schweiz lange weit entfernt. Versuche einzelne Gruppen von Geschädigten zu rehabilitieren oder zu entschädigen scheiterten auf nationaler Ebene mehrmals und Betroffene hatten auch auf juristischem Weg keine Chance auf Wiedergutmachung.

Wie viele andere Opfer von behördlich angeordneten Zwangsmassnahmen hofften auch die Opfer von administrativen Versorgungen lange vergeblich auf Rehabilitierung. Eine kleine Gruppe von ehemals in der Frauenstrafanstalt Hindelbank administrativ versorgter Frauen hat sich ab dem Jahre 2007 mit dem Ziel organisiert, auf politischem Weg eine moralische Wiedergutmachung erlangen. Aufgrund ihrer intensiven, zähen und vielseitigen Vernetzungs- und Lobbyarbeit haben sich am 10. September 2010 Regierungsmitglieder von Bund und Kantonen während einer Veranstaltung in Hindelbank offiziell bei den Opfern von administrativer Versorgung für frühere Behördenentscheide entschuldigt.

Diese offizielle Entschuldigung leitete das Umdenken auf politischer Ebene ein. Schritt für Schritt ist die Wiedergutmachung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte nun auf mehreren Ebenen angegangen worden. Siehe hierzu den Artikel Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Der lange Weg zur Wiedergutmachung.