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Drastische Überbelegung der Gefängnisse in der Romandie

10.03.2014

Die Lage in Westschweizer Gefängnissen spitzt sich wegen chronischer Überbelegung immer mehr zu. Die Probleme, die die Berichte der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) vom Frühjahr 2013 zu den Haftanstalten in Lausanne und Genf aufzeigten, intensivierten sich noch. Suizidversuche, Aufstände der Häftlingsinsassen mit zahlreichen Verletzten sowie Demonstrationen durch die Gefängnisaufseher waren Folgen der Überbelegung. Jüngst beschäftigten sich auch die Gerichte mit der Problematik.

Lausanner Gefängnis Bois-Mermet: «Unhaltbare Haftbedingungen»

Im Juli 2012 besuchte die Antifolterkommission das Gefängnis Bois-Mermet und wählt in ihrem im März 2013 veröffentlichten Bericht klare Worte: Die Haftanstalt in Lausanne sei «veraltet» und die Doppelbelegung von kleinen Einzelzellen «nicht zumutbar», teilweise müssten Inhaftierte gar auf Matratzen auf dem Boden schlafen. Das Zusammenleben auf engem Raum, kombiniert mit eingeschränkten Freizeitmöglichkeiten, würde so zu «grossen Spannungen unter den Insassen» führen. Dies erschwere auch die Arbeit des Personals erheblich.

Nach dem Besuch der NKVF führten die beschriebenen Spannungen zu zwei handfesten Krisen: Im Juli 2012 unternahmen zwei Häftlinge einen Suizidversuch. Im September 2012 protestierten die Insassen mit einer Meuterei gegen die Überbelegung.

Dringliche Massnahmen gefordert

Die Problematik in Bois-Mermet ist augenfällig: Das Lausanner Gefängnis wurde 1904 zur Unterbringung von Untersuchungshäftlingen gebaut und bietet Platz für rund 100 Insassen.  Zum Zeitpunkt des Besuchs der NKVF beherbergte Bois-Mermet 168 Häftlinge, davon 35 im normalen Strafvollzug. Die Antifolterkommission fordert in ihrem Bericht dringende Massnahmen zur Entschärfung der Situation.

In seiner Antwort auf den Bericht kündigte der Regierungsrat eine Studie an, welche die Sanierung oder allenfalls gar den Ersatz des Gebäudes prüfen soll. Die Waadtländer Exekutive will ausserdem auf die Erweiterung der Anstalt bei Orbe (Etablissements de la plaine de l'Orbe EPO) setzen, wo noch diesen Frühling 160 neue Plätze geschaffen werden sollen.

Keine Verbesserung in Champ-Dollon

Massive Platzprobleme kennt auch das Genfer Gefängnis Champ-Dollon und dies schon seit Jahren (vgl. etwa humanrights.ch vom August 2006). Die Situation ist alarmierend: Beim Besuch der NKVF im Juni 2012 waren bei einer offiziellen Aufnahmekapazität von 376 Häftlingen insgesamt 671 Insassen untergebracht. Darunter waren auch 24 Frauen, die sich teilweise auf derselben Abteilung wie die Männer befanden und so «den Blicken und Bemerkungen der Männer ausgesetzt sind», wie die Antifolterkommission in ihrem im Februar 2013 publizierten Bericht schreibt.

Darüber hinaus bemängelt die NKVF diverse weitere Haftbedingungen: Verunreinigte Spazierhöfe und Duschen, unhygienische Küchen, lange Wartefristen beim Zugang zu medizinischer Versorgung oder die ungenügende Information der Häftlinge (u.a. liegt das Gefängnisreglement nur in französischer Sprache vor). Des Weiteren stellt die Kommission «mit Erstaunen» fest, dass für alle Häftlinge zusammen nur eine einzige Telefonkabine zur Verfügung steht. 

Der Genfer Regierungsrat hat bereits im November 2012 eine Verdoppelung der gesamtkantonalen Aufnahmekapazität (von heute 561 auf 1019 Haftplätze) bewilligt. Bis 2017 soll zu diesem Zweck ein neues Gefängnis mit 450 Plätzen gebaut werden. Die NKVF unterstützt diese Pläne in ihrem Bericht «vorbehaltlos», empfiehlt jedoch dringlich auch zwischenzeitliche Massnahmen. 

«Explosive» Bedingungen – auch für die Gefängnisaufseher

Auch in Deutschschweizer Haftanstalten schlägt die NKVF regelmässig Infrastrukturverbesserungen vor. Die Überbelegung in Westschweizer Gefängnissen verlangt aber nach weiterreichenderen und zeitnaheren Massnahmen.

So könnte etwa bei der Zahl der Aufseher angesetzt werden. Diese ist im Verhältnis zur Anzahl Inhaftierter deutlich zu klein: Während den Mahlzeiten sind beispielsweise im Genfer Gefängnis Champ-Dollon nur drei Aufseher für die Beaufsichtigung von rund 100 Häftlingen zuständig. Anfang April 2013 demonstrierten 170 Aufseher in Genf für die Einstellung von zusätzlichem Personal. Die Lage im Gefängnis Champ-Dollon sei explosiv, liess sich der Präsident der Gewerkschaft der Polizei und Gefängnisaufseher (UPCP), Christian Antonietti, dabei zitieren.

Die Demokratischen Juristen in Genf (Association des juristes progressistes, AJP) haben zudem gerügt, dass die Genfer Behörden immer häufiger Untersuchungshaften und immer längere Haftstrafen anordnen würden. Um die Gefängnisse zu entlasten, plädiert die AJP dafür, bei niederschwelligen Delikten anderweitige Lösungen als den Strafvollzug zu suchen und weniger Personen in Untersuchungshaft zu setzen. 

Verletzung von Art. 3 EMRK?

Die Debatte rund um die Haftbedingungen im Genfer Gefängnis Champ-Dollon beschäftigten unterdessen auch die Gerichte. Das Bundesgericht hat sich Ende Februar 2014 zur Frage geäussert, ob eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliegt.

Im Juni 2013 hatten mehrere Inhaftierte ihre Freilassung gefordert, weil sie fanden, dass die Haftbedingungen die Minimalstandards, die sich aus Art. 3 EMRK ergeben, nicht erfüllen. So musste einer der Inhaftierten etwa während eines Monats auf einer Matratze am Boden schlafen. Ein weiterer verbrachte 24 Tage in einer Zelle, in der ihm lediglich 3,84 Quadratmeter individueller Raum zur Verfügung stand.

Das zuständige Genfer Gericht erster Instanz befand, dass die Insassen in der Tat über zu wenig individuellen Raum verfügen und dass wegen der Überbelegung eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliege. Die Staatsanwaltschaft legte gegen den Entscheid Rekurs ein. Die höchste kantonale Gerichtsinstanz gab daraufhin dem Staatsanwalt Recht. Die Richter vertraten die Ansicht, dass die Haftbedingungen in Champ-Dollon zwar schwierig seien, aber EMRK-konform.

Das Bundesgericht beschäftigte sich mit den Genfer Fällen und hiess zwei der Beschwerden am 26. Februar 2014 gut. Demnach verstossen die Haftbedingungen in Champ-Dollon gegen die Garantien von Art. 3 EMRK. Siehe hierzu den Artikel Die Haftbedingungen von Champ-Dollon verletzten die Menschenrechtskonvention.

Dokumentation

Weiterführende Informationen