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Ausschaffung nach Sri Lanka verletzt Folterverbot

26.01.2017

(teilweise von Schutzfaktor-M übernommen)

Die Ausschaffung eines abgewiesenen Asylsuchenden nach Sri Lanka verletzt das Verbot der Folter nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte am 26. Januar 2017 einstimmig eine Verletzung der EMRK fest, weil die Schweiz 2013 einen asylsuchenden Tamilen ausgeschafft hatte und dieser nach seiner Rückschaffung in Sri Lanka verhaftet und misshandelt wurde. Laut dem Gerichtshof hätte die Schweiz um das Risiko im Ausschaffungsland Bescheid wissen müssen. Der EGMR trat auf die Beschwerde ein, obschon die Schweiz mittlerweile ein zweites Asylgesuch des Beschwerdeführers gutgeheissen hat.

Sachverhalt

Der aus Sri Lanka stammende X und seine Frau stellen 2009 in der Schweiz ein Asylgesuch wegen politischer Verfolgung. X gibt an, als ehemaliges Mitglied der Tamil Tigers in Gefangenschaft misshandelt worden zu sein. Das Bundesamt für Migration (BFM, das heutige «Staatssekretariat für Migration», SEM) verwehrt X und seiner Frau den Flüchtlingsstatus und ordnet die Rückschaffung nach Sri Lanka an. X rekurriert dagegen erfolglos; das Bundesverwaltungsgericht weist seine Beschwerde letztinstanzlich ab.

2013 wird die Ausschaffung von X, seiner Frau und deren zwei jungen Kindern vollzogen. Bereits bei ihrer Ankunft am Flughafen von Colombo wird die gesamte Familie festgehalten und für 13 Stunden verhört. Während die Behörden Frau und Kinder wieder freigelassen, wird X in ein Gefängnis gebracht, wo er misshandelt wird. Ein Vertreter der schweizerischen Botschaft besucht X im Gefängnis, woraufhin die schweizerischen Behörden Frau und Kinder zurück in die Schweiz holen.

Neben X wird ein zweiter von der Schweiz abgewiesener Asylsuchender nach seiner Rückschaffung in Sri Lanka verhaftet. Im September 2013 suspendiert das BFM alle Rückschaffungen von Tamilen nach Sri Lanka und gibt eine externe Untersuchung in Auftrag. Im entsprechenden Rechtsgutachten kommt Prof. Walter Kälin zum Schluss, dass das individuelle Risiko einer Gefährdung in Sri Lanka aufgrund von verschiedenen Mängeln nicht richtig eingeschätzt worden war.

Im April 2015 wird X aus der Haft entlassen und stellt in der Schweiz einen Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen. Das BfM heisst den Antrag gut und X kehrt in die Schweiz zurück. Sein erneutes Asylgesuch wird ebenfalls gutgeheissen.

Vor dem EGMR macht X eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots nach Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) geltend. Er rügt insbesondere, dass die schweizerischen Behörden das Risiko, wonach X im Falle einer Ausweisung nach Sri Lanka eine unmenschliche Behandlung droht, unzureichend abgeklärt haben.

Entschädigung wird gutgeheissen

Vor dem EGMR macht die Regierung geltend, dass der Gerichtshof nicht auf die Beschwerde einzutreten hat. Laut der Regierung fehlt dem Beschwerdeführer die in Art. 34 EMRK geforderte Opfereigenschaft, weil die Schweiz ihm und seiner Familie half zurückzukehren und ihn später als Flüchtling anerkannte. Eine Entschädigung hätt er zudem im Rahmen einer Staatshaftungsklage gem. Art. 3 des Verantwortlichkeitsgesetz fordern können. Der Gerichtshof folgt dieser Argumentation nicht. Er anerkennt zwar, dass die Schweiz verschiedene Schritte unternommen hat, um die Situation für X nach der Ausschaffung zu verbessern. Hingegen führe diese Wiedergutmachungsmassnahmen nicht automatisch dazu, dass die betroffene Person seinen Status als «Opfer» verliere. Hierfür wäre eine ausdrückliche Anerkennung der Widerrechtlichkeit staatlichen Handelns sowie eine finanzielle Wiedergutmachung für die erfolgte Konventionsverletzung erforderlich gewesen.

Der Gerichtshof weist zudem daraufhin, dass die von der Regierung angeführte Staatshaftungsklage kein hinreichend wirksames Mittel bot, um eine Entschädigung bzw. Wiedergutmachung zu verlangen. So habe das Bundesgericht in einem ähnlichen Fall die Möglichkeit einer Staatshaftungsklage verneint (BGE 119 IB 208). Ausserdem habe sich X während der einjährigen Frist für die Staatshaftungsklage noch in Haft befunden, weshalb er von einer Verjährung ausgehen musste.

Die Schweiz habe nicht darlegen können, dass eine Staatshaftungsklage Aussicht auf Erfolg versprochen hätte. Der Gerichtshof kommt zum Schluss, dass der immaterielle Schaden nicht durch die alleinige Feststellung der Widerrechtlichkeit aufgewogen werden kann und spricht dem Kläger gem. Art. 41 EMRK eine Entschädigung von CHF 30'000.- zu.

Ungenügende Risikoanlyse

In materieller Hinsicht war es für den EGMR klar, dass die Ausschaffung von X und die Behandlung seines ersten Asylgesuches Art. 3 EMRK verletzt. Der EGMR ruft in Erinnerung, dass seine ständige Rechtsprechung unter Art. 3 EMRK eine sehr gründliche Risikoanalyse der Situation im Ausschaffungsland verlangt. Gemäss dem EGMR hätte die Schweiz aufgrund der ihr vorliegenden Informationen und in Anbetracht des Parallelfalles das Risiko der Misshandlung, das X in Sri Lanka drohte, kennen müssen. Der EGMR verweist dabei auch auf die Erkenntnisse der externen Gutachten vom UNHCR und von Professor Walter Kälin und stellt fest, dass die Schweiz aufgrund ihrer Vorgehensweise nach der Ausschaffung eine Verletzung von Art. 3 EMRK in der Sache bereits selbst anerkannt hatte.

Kommentar

In materieller Hinsicht bestätigt das EGMR-Urteil lediglich, was verschiedene Experten und auch die Schweiz selbst bereits anerkannt haben, nämlich, dass die Ausschaffungen von Personen wie X nach Sri Lanka zu diesem Zeitpunkt aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Sicht nicht zulässig waren.

Das Urteil macht ausserdem deutlich, dass die implizite Feststellung der Widerrechtlichkeit staatlichen Handelns mittels nachträglicher Asylgewährung nicht ausreicht, um einer betroffenen Person die «Opfereigenschaft» im Sinne der Konvention abzusprechen. Zudem wird mit dem Urteil die gut etablierte EMRK-Rechtsprechung verfestigt, wonach der alleinige Hinweis auf ein mögliches alternatives innerstaatliches Rechtsmittel nicht ausreicht, um eine Klage abzuweisen. Die Beweislast, dass ein solches Rechtsmittel erfolgsversprechend wäre (nicht nur in der Theorie sondern auch in der Praxis) liegt bei der Regierung.