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EGMR zu Ausschaffungsfall: Recht auf Familienleben geht vor

25.04.2013

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz gerügt, weil die Behörden einem straffälligen Nigerianer die Aufenthaltsbewilligung entzogen haben, obwohl dieser Kinder in der Schweiz hat. Das Urteil ist vor allem innenpolitisch von Brisanz, weil es eine denkwürdige Entwicklung beschleunigt.

Der Fall

Der Nigerianer K.U. war 2001 mit falscher Identität eingereist und stellte ein Asylgesuch, welches die Behörden ablehnten. Daraufhin verliess er die Schweiz und kehrte im Jahr 2003 zurück, um eine  Schweizerin zu heiraten, womit er auch eine Aufenthaltsbewilligung erhielt. Die beiden bekamen Zwillinge.

Im Sommer 2006 wurde K.U. in Deutschland beim Versuch, Kokain einzuführen, festgenommen und zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt. Er kam in Deutschland in Haft. Im Jahr darauf entschied das Migrationsamt Basel-Land, dass seine Aufenthaltsbewilligung hinfällig geworden sei, weil er während mehr als sechs Monaten nicht in der Schweiz war. Eine neue Bewilligung wurde dem immer noch in Deutschland Inhaftierten nicht gewährt, unter anderem mit der Begründung, er sei strafrechtlich verurteilt worden und seine Familie sei von der Sozialhilfe abhängig. Der Betroffene, seine Frau und die gemeinsamen Kinder legten gegen den Entscheid Rekurs ein, der von den Basler Instanzen negativ beantwortet wurde. Im Jahre 2009 wies auch das Bundesgericht den Rekurs ab.  Die Familie gelangte an den EGMR.

Unterdessen hatte K.U. seine Haftstrafe in Deutschland vorzeitig beendet und befand sich wieder in der Schweiz. Die Basler Behörden teilten ihm mit, dass er bis Ende März 2009 das Land verlassen müsse. Der Mann blieb weiter in der Schweiz und kam zweimal vorübergehend in Ausschaffungshaft; zwischendurch tauchte er unter. Das Bundesamt für Migration (BFM) entschied 2011, dass er die Schweiz verlassen und bis 2020 nur für kurze Besuche seiner Familie einreisen darf.

Der Nigerianer blieb in der Schweiz, lebte nun allerdings getrennt von der Ehefrau. Die Ehe wurde geschieden; die Kinder dürfen ihren Vater gemäss Entscheid des Scheidungsrichters zwei Mal wöchentlich besuchen. 2012 wurde der heute 41-Jährige zum dritten Mal Vater. Die Mutter dieses Kindes ist ebenfalls Schweizerin und sie wünschen baldmöglichst zu heiraten.

Der Entscheid

Mit 5 gegen 2 Stimmen entschieden die Richter/innen in Strassburg, dass die schweizerischen Behörden im vorliegenden Fall das Recht auf Familienleben (Artikel 8 EMRK) missachtet haben. Den Schuldspruch in Deutschland und die Sozialhilfeabhängigkeit der Familie sah das Gericht nicht als ausreichenden Grund an, den Ausländer auszuweisen und damit von seinen Kindern zu trennen.

In den Erwägungen der Richter spielten folgende Punkte die zentrale Rolle: die verhältnismässig lange Aufenthaltsdauer in der Schweiz (seit 2011 mit Unterbruch), die intakte neue Beziehung zu einer Schweizerin und dem gemeinsamen Kind, dass K.U. keine Sozialhilfe mehr bezieht sowie dass sich die vom BFM prognostizierte Rückfallgefahr nicht bewahrheitet hat.

Das Bundesgericht hatte in seinem Urteil, das vor unterdessen 4 Jahren ergangen ist, anders entschieden. Zum einen hatte sich K.U. damals erst während 3 Jahren im Lande aufgehalten. Die Richter in Lausanne befanden deshalb, sein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz sei wegen seiner Straffälligkeit und Fürsorgeabhängigkeit kleiner als das öffentliche Interesse, ihn von der Schweiz fernzuhalten. Es anerkannte zwar, dass die Ausschaffung für die damals noch intakte Familie hart sei; allerdings habe K.U. nur wenige Jahre in der Schweiz gewohnt und er hätte ein gutes soziales Netz in Nigeria.

Die Behörden müssen den Klägern 9000 Euro Genugtuung zahlen, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Zudem könnte K.U. beim Bundesgericht ein Revisionsgesuch beantragen oder auf kantonaler Ebene erneut eine Aufenthaltsbewilligung beantragen. Der Bund wollte den Fall zur Beurteilung der Grossen Kammer des EGMR zur Neubeurteilung vorlegen, diese hat ihn nicht zugelassen. Damit ist das vorliegende Urteil defintiv.

Die innenpolitische Brisanz

Das Urteil ist bedeutsam und sorgt für innenpolitischen Zündstoff. Die von den Stimmberechtigten angenommene Ausschaffungsinitiative besagt, dass das Aufenthaltsrecht von ausländischen Delinquenten ab einem Strafmass von 6 Monaten automatisch verwirkt. Das heisst, anders als im Fall K.U. soll der Einzelfall künftig nicht mehr von Richtern/-innen beurteilt werden. Ein straffälliger Ausländer soll ungeachtet der menschenrechtlichen Folgen ausgeschafft werden.  

Die Behörden bemühen sich einen Weg zu finden, die vom Schweizer Stimmvolk im November 2010 angenommene Ausschaffungsinitiative menschenrechtskonform umzusetzen. Das Dilemma ist bekannt: Eine wortwörtliche Umsetzung würde der EMRK widersprechen. Weniger zur Kenntnis genommen wird bisher, dass eine buchstabengetreue Umsetzung auch gegen die Schweizer Verfassung verstossen würde. Die Umsetzung nach Wunsch der Initianten/-innen ist damit nicht möglich. Dies ändert nichts daran, dass die SVP für massiven Druck sorgt und seit der Abstimmung bei jeder Gelegenheit die wortgetreue Umsetzung einfordert. Unterstrichten hat sie dies mit einem neuen, im Februar 2013 eingereichten Volksbegehren (Durchsetzungsinitiative). 

Kommentar

Das Urteil ist denkwürdig, denn es beschleunigt eine Entwicklung, die humanrights.ch seit geraumer Zeit beobachtet: Im Umfeld der SVP wird konsequent auf eine Schwächung der Grund- und Menschenrechte hingearbeitet. Die Rechtspartei fordert, mit Fingerzeig auf Urteile wie das nun ergangene, dass Mehrheitsentscheide in Abstimmungen über den Menschen- und Grundrechten stehen müssen.

Die Umstände, die zum nun ergangenen Urteil geführt haben, sind schwer kommunizierbar und liefern den EMRK-Gegnern/-innen einfache Feindbilder und Slogans für ihre Forderung. Die umgehende Reaktion der SVP blieb denn auch nicht aus: Der Parteipräsident der SVP Toni Brunner forderte in der Sonntagszeitung umgehend, das Urteil sei zu ignorieren und es sei „konsequenterweise die EMRK zu kündigen“. Die SVP arbeite an einer weiteren Volksinitiative, wobei noch offen ist, ob sie direkt auf die Kündigung der EMRK herausläuft oder ob sie auf eine höhere Gewichtung des Landesrechts gegenüber dem Völkerrecht abzielt.

Für humanrights.ch ist es wichtig, festzuhalten, dass das ergangene EGMR-Urteil einen Einzelfall betrifft, der 2013 anders liegt als zum Zeitpunkt der Beurteilung durch das Bundesgericht im Jahre 2009. Die Tragweite des Urteils ist damit begrenzt auf die Familie von K.U. Das Urteil bedeutet keinesfalls, dass sich künftig jeder straffällig gewordene Ausländer einer Wegweisung entziehen kann, wenn er ein gemeinsames Kind mit einer Schweizerin hat. Der Menschenrechtsgerichtshof erlässt nicht Gesetze; er entscheidet lediglich in Einzelfällen verbindlich. Dies gilt es bei der Interpretation und Bewertung all seiner Urteile zu berücksichtigen.

Dokumentation

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