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Schweizer Dublin-Praxis in der Kritik: Warum schaffen die Behörden weiterhin nach Italien aus?

21.12.2015

Seit August 2015 reagiert Italien nicht mehr auf Rückübernahme-Anträge aus der Schweiz. Dessen ungeachtet schicken die Schweizer Behörden Flüchtlinge nach Italien zurück, wenn es Indizien gibt, dass diese über das Nachbarland eingereist sind. In einigen Fällen sind offenbar Asylsuchende von der Schweiz nach Italien geschickt worden, obwohl sie dort nie durchgereist sind. Organisationen wie Augenauf kritisieren dieses Vorgehen des Staatssekretariats für Migration (SEM) scharf und fordern, dass die Schweiz ihre Verantwortung wahrnimmt.

Flüchtlinge loswerden

«Es zeigt sich ein weiteres Mal, dass die Schweiz ein Land kleinherziger, paragrafenreitender Beamten/-innen ist, das Flüchtlinge um jeden Preis los werden will, statt - im Sinne einer solidarischen Flüchtlingspolitik - den Ermessenspielraum auszuloten», schreibt Augenauf im Dezember-Bulletin.

Hintergrund ist folgender Umstand: Das Dublin-Abkommen hält fest, dass ein Dublin-Staat unter gewissen Bedingungen Asylsuchende ins «Erstaufnahmeland» zurück schicken darf, auch wenn sie dort nie ein Asylgesuch gestellt haben. Dies ist dann legal, wenn es Indizien gibt, dass eine Person über den betroffenen Staat eingereist ist. Die Schweiz muss dafür dem Erstaufnahmeland Beweise vorlegen, ansonsten lehnt der entsprechende Staat die Rückübernahme in der Regel ab und der Zweitstaat muss das Gesuch um Asyl selber behandeln. Reagiert allerdings ein Erstaufnahmeland innert der gesetzten Frist nicht auf ein Rückübernahmegesuch, wird dies als stilles Einverständnis gewertet und die Zuständigkeit für das Asylgesuch weitergegeben.

Notlage Italiens

Italien reagiert seit Monaten nicht mehr auf solche Gesuche aus der Schweiz. Noch immer kommen Tausende Menschen in Booten übers Mittelmeer nach Italien. Das italienische Asylsystem ist überlastet, die Auffanglager sind überfüllt und Flüchtlinge leben oft unter prekären Bedingungen auf der Strasse. Die Behörden können kein faires Asylverfahren mehr garantieren und registrieren ankommende Flüchtlinge nicht mehr systematisch.

Ähnlich sieht es in andern EU-Staaten aus - auch Ungarn und Griechenland lassen die Flüchtlinge weiterziehen, ohne sie zu registrieren. Angesichts der Notlage von Italien und anderer Schengen-Grenzstaaten diskutieren die EU-Staaten unter Beteiligung der Schweiz seit Wochen über einen gerechten Verteilschlüssel für die Flüchtlinge - bisher bekanntlich ohne brauchbare Resultate.

In dieser Situation hat Deutschland beschlossen, die Gesuche von syrischen Flüchtlingen im Rahmen des sogenannten Selbsteintritts eigenständig zu behandeln. Die zuständigen Behörden in der Schweiz hingegen ändern ihre Praxis nicht, sie profitieren offenbar sogar von der Überforderung der Nachbarstaaten.

Die Schweiz überlässt verletzliche Menschen ihrem Schicksal

Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) zeigt derweil in einem aktuellen Bericht, welche Auswirkungen diese unsolidarische Rückschaffungs-Politik auf die Betroffenen hat. Demnach werden die Rechte von besonders verletzlichen Personen im Dublin-Verfahren oft missachtet, meist ungenügend umgesetzt und ihre Bedürfnisse hinter eine restriktive Migrationspolitik zurückgestellt.

Die SBAA dokumentiert in ihrem Bericht etwa folgenden Fall: «Mariama» lebte seit ihrer Geburt mit ihrer Familie bei einem Mauren. Ihre Eltern kamen als Sklaven zu diesem Mann und so wurde sie in diese Verhältnisse hineingeboren. Mit neun Jahren wurde sie erstmals vergewaltigt und im Alter von 13 Jahren mit einem älteren Mann zwangsverheiratet, der sie misshandelte und sie nach drei Jahren mit ihren beiden Kindern alleine liess. 2012 konnte sie fliehen und mit Hilfe eines Schleppers gelangte sie nach Italien und von da in die Schweiz. 2014 stellte sie ein Asylgesuch und wurde sogleich einige Tage von der Polizei festgehalten, bevor sie in ein Empfangszentrum gebracht wurde. Dort wurde eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine schwere Depression mit latenter Suizidalität diagnostiziert. Trotzdem bekam sie einen Nichteintretensentscheid und wurde aufgefordert nach Italien zurück zu kehren.

Wo bleibt die Solidarität der Schweiz?

Die Fachorganisation SBAA analysiert die Lage wie folgt: «Mit der grossen Zahl der Flüchtlinge in diesem Jahr haben sich seit jeher fragwürdige Instrumente wie das Dublin-System als vollends unbrauchbar und unwürdig erwiesen. Aber was tun wir? Die Schweiz und Europa entsolidarisieren sich und schicken die Flüchtlinge weiterhin nach Italien zurück. Die EU und die Schweiz müssen aufhören, die Flüchtlinge von einem Land zum andern abzuschieben, bevor die Lastenverteilung nicht besser geregelt und gerechter angegangen wird.»