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Die Bedeutung der EMRK für das schweizerische Arbeitsrecht

02.09.2016

In der Arbeitsrechtspraxis wird relativ selten auf Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Bezug genommen und auch die herrschende Arbeitsrechtslehre ist sich der Bedeutung der EGMR-Entscheide für die schweizerische Arbeitsrechtspraxis kaum bewusst. Kurz: Das arbeitsrechtliche Potenzial der Europäischen Menschenrechtkonvention (EMRK) wird unterschätzt. Zu diesem Schluss kommt ein im März 2015 publiziertes Gutachten von Professor Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht der Universität Basel, zuhanden des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

In einem ersten Teil des Gutachtens wird die Bedeutung der EMRK als «living instrument» und die Auswirkungen der EMRK auf privatrechtliche Verhältnisse erläutert. Im Hauptteil legt die Untersuchung den Fokus auf die für das Arbeitsverhältnis relevante Rechtsprechung des EGMR. Zum Schluss mündet das Gutachten in konkrete Empfehlungen an arbeitsrechtliche Praktiker/innen in der Schweiz.

Das Konzept der positiven Schutzpflichten

Menschenrechte regeln primär das Verhältnis zwischen Staat und Bürger/innen - sie sind also in erster Linie an den Staat gerichtet. So ist nach Art. 1 EMRK der Staat verpflichtet, die EMRK Rechte zu garantieren. Diese Verpflichtung erfasst sämtliche Staatsgewalten, also sowohl den Gesetzgeber als auch die Judikative und die Verwaltung. Private werden durch die EMRK hingegen nicht (unmittelbar) verpflichtet.

Dies bedeutet nun aber nicht, dass zivilrechtliche Streitigkeiten (etwa in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis) nicht vor den EGMR gebracht werden können. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergeben sich für die Staaten nämlich umfangreiche Pflichten, dafür zu sorgen, dass die Konventionsrechte auch in privaten Verhältnissen geschützt sind (sog. positive Schutzpflichten), namentlich im Bereich des Arbeitsrechts. Die EMRK kann demnach auch dann verletzt sein, wenn die staatlichen Gerichte in zivilrechtlichen Streitigkeiten die Abwägung zwischen den Interessen der Arbeitgeber/innen und der Arbeitnehmer/innen nicht richtig vorgenommen haben. Das Schutzpflichtenkonzept führt gemäss Gutachten dazu, «dass der EGMR mehr und mehr zu einem suprastaatlichen Berufungsgericht in arbeitsgerichtlichen Verfahren werde» (S. 47).

Nun beinhaltet die EMRK allerdings mit Ausnahme des in Art. 11 EMRK verankerten Rechtes, Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten, keine Arbeits- und Sozialrechte. Wie also finden weitere arbeitsrechtliche Ansprüche, wie etwa der Kündigungsschutz oder das Recht auf Privatsphäre am Arbeitsplatz Eingang in die Rechtsprechung des Strassburger Gerichtshofs?

Integration der Arbeitsrechte in die EMRK

Der EGMR sieht die EMRK als «living instrument». Das bedeutet, dass eine EMRK-Bestimmung auf Grundlage des aktuellen gesellschaftlichen Kontextes ausgelegt wird und nicht nach den Bedingungen zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Vorschrift. Es handelt sich um den methodischen Gegenentwurf zum «Originalismus», eine besonders in den USA weitverbreitete juristische Lehrmeinung, welche die ursprüngliche Bedeutung einer Norm ins Zentrum setzt.

Der EGMR legt die EMRK-Bestimmungen im Lichte sämtlicher relevanter internationaler Normen einschliesslich der Spruchpraxis der zuständigen Überwachungsorgane aus. Dies ungeachtet dessen, ob der betreffende Staat die beigezogenen Konventionen ratifiziert hat. Unter anderem hat der EGMR auch sozial- und arbeitsrechtliche Ansprüche durch Auslegung in die EMRK integriert. Dieser methodische Ansatz der «integrativen Auslegung» wurde im Urteil «Demir und Baykara» begründet und bildet gemäss der Studie «grosses Innovationspotenzial für die Fruchtbarmachung und Weiterentwicklung der EMRK für die Arbeitsrechte» (S. 47). Für die Auslegung der in der EMRK verankerten Menschenrechte zieht der EGMR nebst den relevanten ILO-Abkommen auch die Europäische Sozialcharta (ESC) bei. Dies ist bemerkenswert, da die Schweiz weder die Europäische Sozialcharta noch einige für die Gewerkschaftsrechte und die Rechte der Arbeitnehmer/innen wichtige ILO-Abkommen ratifiziert hat. Über den «Umweg» der EMRK können also Schweizerinnen und Schweizer diese Ansprüche trotzdem individuell geltend machen und durchsetzen.

Rechtsprechung zu einschlägigen Bestimmungen

Die Studie veranschaulicht das arbeitsrechtliche Potenzial der Konventionsbestimmungen anhand ausgewählter EGMR-Urteile. Untersucht werden das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), der Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK), die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Gewerkschaftsrechte (Art. 11 EMRK) und das akzessorische Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK).

Neue Dynamik für das Kündigungsrecht?

Gemäss der Studie kann die neuere EGMR-Rechtsprechung insbesondere eine neue Dynamik für das schweizerische Kündigungsrecht entfalten. So sei fraglich, ob der im schweizerischen Arbeitsrecht verankerte Kündigungsschutz für Gewerkschafter/innen den Anforderungen des im Lichte der ILO-Abkommen und der Sozialcharta ausgelegten Art. 11 EMRK genüge (vgl. auch unseren Artikel: Wann verbessert die Schweiz den Schutz vor einer missbräuchlichen Kündigung?).

Arbeitsstelle als wichtiger Bereich des Privatlebens

Die Studie weist darauf hin, dass der EGMR den Begriff «Privatleben» im Rahmen «einer ebenso innovativen wie kritisierten Rechtsprechung» sehr weit ausgelegt hat: So habe der Gerichtshof nicht nur das Recht auf Privatsphäre am Arbeitsplatz anerkannt, sondern auch einen Anspruch auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einer Arbeitsstelle (Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK). Eine Arbeitsstelle zu haben, stellt gemäss der Studie «einen wichtigen Bereich des durch Art. 8 EMRK geschützten Bereich des Privatlebens dar». Die Nichtanstellung aus diskriminierenden Gründen könne also eine Verletzung der EMRK darstellen (vgl. Sidabras und Dziautas gegen Litauen). Zudem lasse sich aus Art. 8 EMRK auch ein Schutz vor missbräuchlicher Kündigung (vgl. Schüth gegen Deutschland und Obst gegen Deutschland) und bei Vorliegen ganz besonderer Umstände sogar ein Anspruch auf Wiedereinstellung (vgl. Volkov gegen Ukraine) ableiten.

Gewerkschaftsrechte aus Art. 11 EMRK

Auch bezüglich Gewerkschaftsrechten bringt die jüngere EGMR-Praxis für die schweizerischen Gewerkschaften gemäss der Studie einige Anhaltspunkte für eine Fruchtbarmachung der EMRK in strittigen Fragen, namentlich zur Verhältnismässigkeit von Streiks. Zudem gebieten die staatlichen Schutzpflichten auch hier ein aktives staatliches Tun, damit die Gewerkschaften und die einzelnen Gewerkschafter/innen die in Art. 11 EMRK verankerten Rechte auch tatsächlich ausüben können. Zum für Gewerkschaften zentralen Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit gehören gemäss der Strassburger Rechtsprechung «das Recht der Gewerkschaften auf Autonomie und das Recht der Gewerkschaften, sich für die Interessen ihrer Mitglieder einzusetzen» (S. 32). Art. 11 EMRK umfasst weiter einen Schutz gegen Sanktionen des Arbeitgebers gegenüber Arbeitnehmenden, die sich gewerkschaftlich betätigen, sowie das Recht auf Abschluss von Kollektivverträgen und das Recht auf Streik.

Empfehlungen an die Gewerkschaften

Die Ausführungen in diesem Gutachten zeigen, «dass es sich in ausgewiesenen Konstellationen durchaus lohnen könnte, eine bundesgerichtliche Entscheidung in einem arbeitsrechtlichen Streit an den Gerichtshof in Strassburg weiterzuziehen» (S. 49). Zudem seien die arbeitsrechtlich relevanten Urteile des EGMR angesichts ihrer Bindungswirkung auch im gewöhnlichen Arbeitsrechtsprozess von grosser Bedeutung.

Verbände wie z.B. Gewerkschaften können sich übrigens an den Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR in mehrfacher Hinsicht beteiligen: Sei es beratend, als Rechtsvertreter/in, als Beschwerdeführer/in oder mit dem Beisteuern eines Rechtsgutachtens (vgl. S. 47). Für eine solche Drittintervention gemäss Art. 36 Abs. 2 EMRK muss die Gewerkschaft zunächst einen Antrag auf Zulassung zur Drittintervention stellen.

Fazit

Die Studie veranschaulicht das bisher kaum genutzte Potenzial der EMRK für das schweizerische Arbeitsrecht anhand konkreter Beispiele auf eindrückliche Weise. Hervorzuheben ist die grosse Bedeutung, die der EGMR den staatlichen Schutzpflichten beimisst und damit der indirekten Drittwirkung von Grundrechten zwischen Privaten. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes sollte von Praktikern/-innen im Auge behalten und angewendet werden – sowohl innerstaatlich wie auch für die Anfechtung von Bundesgerichtsurteilen in Strassburg.

Tagung: «Zwischen Strassburg und Genf»

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat am 13. November 2015 unter dem Motto «Internationale Grundrechte schützen auch die Arbeitnehmenden in der Schweiz» eine juristisch orientierte Tagung organisiert. Die Beiträge der Tagung wurden in einem Dossier zusammengetragen. Das Dossier besteht aus drei Teilen. Im ersten Beitrag befassen sich Christine Kaufmann und Christoph Good mit der Frage, ob die Kernkonventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in der Schweiz direkt anwendbar sind. Der zweite Beitrag von Kurt Pärli beruht auf seinem oben dargestellten Gutachten. Und schliesslich rekapituliert der Rechtsanwalt David Huysman den EGMR-Fall Howald Moor und andere gegen die Schweiz durch alle Instanzen bis zu den Auswirkungen des EGMR-Urteils auf das Recht und die Politik in der Schweiz.

Das Potenzial der integrativen Auslegung

(Nachtrag vom September 2018)

Dass die EGMR-Methode der integrativen Auslegung ein grosses Potenzial hat, ist die These der Masterarbeit von Nicolas Fellmann. Seine Erläuterungen gipfeln im hypothetischen Fall, dass der von einem Schweizer Arbeitgeber verweigerte Vaterschaftsurlaub durch alle Instanzen bis vor den EGMR getragen würde. Gemäss der integrativen Auslegung könnte sich der EGMR auf etliche internationale Rechtsquellen beziehen, welche das Recht auf einen Vaterschaftsurlaub stützen und dazu führen könnten, die Beschwerde gutzuheissen.