24.05.2012
Behinderte Kinder müssen möglichst die Regelschule und nicht die Sonderschule besuchen. Dies hält das Bundesgericht im BGE 138 I 162 vom 13. April 2012 fest. Es weist eine Beschwerde ab, mit der die Eltern eines 14jährigen Knaben erreichen wollten, dass dieser wegen seiner zentral-auditiven Wahrnehmungsstörung die Sonderschule besuchen kann. Aus Sicht der Behindertengleichstellung ist der Entscheid zu begrüssen, denn er stärkt die Forderung nach schulischer und gesellschaftlicher Integration von behinderten Kindern. Ob der Entscheid im konkreten Fall auch dem Wohle des betroffenen Kindes entspricht, bleibt strittig.
Die Fachstelle Inclusion Handicap begrüsst den Entscheid des Bundesgerichts als «klares Bekenntnis zur Integration». Sie hält fest, eine integrative Beschulung sei eines der zentralen Gefässe, um Kinder und Jugendliche trotz Behinderung bestmöglich für ein selbstbestimmtes und integriertes Leben vorzubereiten. Dies dürfe hingegen nicht dazu führen, dass eine integrative Beschulung einer separativen prinzipiell vorgezogen werde, wenn dies dem Wohle des Kindes widerspreche. Vielmehr seien die Kantone und Gemeinden gemäss Art. 8 Abs. 2 und 4 der Bundesverfassung (BV) verpflichtet dafür zu sorgen, dass die notwendige Förderung sowie finanzielle und fachliche Unterstützung zur Verfügung stehen, die eine integrierte Sonderbeschulung bestmöglich und im Interesse des Kindes gewährleisten.
- Bundesgerichtsurteil stärkt schulische Integration (online nicht mehr verfügbar)
Medienmitteilung von Inclusion Handicap, Gleichstellungsrat und Insieme Schweiz vom 23. Mai 2012 (pdf, 2 S.) - Bundesgericht stärkt die integrative Beschulung (online nicht mehr verfügbar)
Urteilsbesprechung auf der Website von Inclusion Handicap, 22. Mai 2012
Zum Sachverhalt
Der 14-Jährige Knabe aus dem Kanton Schwyz leidet an einer hochgradigen Wahrnehmungsstörung und muss seit der ersten Klasse grossen Aufwand betreiben, um dem Unterricht in der öffentlichen Volksschule zu folgen. Der Schulpsychologe beantragte deshalb, den Jungen ab Sekundarstufe 1 vorerst für ein Jahr in eine Sonderschule zu schicken.
Das zuständige Amt wies das Ersuchen ab und verpflichtete die Schulverantwortlichen, für das Kind eine Lösung zur Integration in die Regelschule zu organisieren, unter Gewährung sonderschulischer Beratungen und Therapien. Das Bundesgericht hat die Beschwerde der betroffenen Familie nun in letzter Instanz abgewiesen.
Mittel rechtsgleich verteilen
Das Bundesgericht verweist im Entscheid zunächst darauf, dass die Ausgestaltung der Sonderschulung für behinderte Kinder grundsätzlich Sache der Kantone ist. Gemäss dem entsprechenden Konzept des Kantons Schwyz seien sonderschulbedürftige Kinder nach Möglichkeit ins Volksschulangebot zu integrieren.
Dieser Vorrang gegenüber separierter Schulung ergebe sich auch aus der Bundesverfassung und dem Gesetz zur Gleichstellung Behinderter. Behinderten Menschen solle demnach geholfen werden, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und weiterzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben.
Diesen Zielen werde mit einer durch Förderungsmassnahmen begleiteten Integration in die Regelschule Rechnung getragen. Dass eine Sonderschule allenfalls Vorteile biete, sei nicht ausschlaggebend. Der Staat verfüge nur über begrenzte finanzielle Mittel und müsse diese möglichst rechtsgleich verteilen.
Kein Anspruch auf optimalen Unterricht
Sowohl behinderte als auch nichtbehinderte Kinder hätten deshalb nur Anspruch auf ausreichenden und nicht auf idealen oder optimalen Unterricht (Art. 19 BV). Zwar sei es grundsätzlich gerechtfertigt, für behinderte Kinder einen grösseren Schulungsaufwand zu betreiben. Das bedeute aber nicht, dass ihnen ein individuell optimiertes Schulprogramm zur Verfügung gestellt werden müsste. Der betroffene Junge habe im Übrigen bisher in der Volksschule gut bestehen können, wenn auch unter erheblichen Anstrengungen. Dies gehe allerdings vielen nichtbehinderten Kindern auch nicht anders.
(Quelle unterer Teil: sda)
- BGE 138 I 162 vom 13.4.2012
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