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Leitlinien für eine kindgerechte Justiz – auch in der Schweiz

06.07.2016

Kinder und Jugendliche in der Schweiz kommen aus unterschiedlichen Gründen mit dem Rechtssystem in Berührung: Sie erleben beispielsweise die Scheidung ihrer Eltern, befinden sich in einem Adoptionsverfahren, oder sie sind Opfer, manchmal auch Täter einer Straftat. Für viele Minderjährige sind gerichtliche und verwaltungsrechtliche Verfahren eine belastende Erfahrung. Ziel einer kindgerechten Justiz ist es deshalb, dass Minderjährige während eines rechtlichen Verfahrens mit Würde, Achtsamkeit und Respekt behandelt werden. Zudem verlangt eine kindgerechte Justiz, dass Kinder und Jugendliche angehört und altersgerecht in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden.

Der Europarat hat 2010 mit den «Leitlinien für eine kindgerechte Justiz» die Standards in Europa gesetzt. Die Leitlinien stützen sich auf die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), welche die Schweiz 1997 ratifiziert hat. Letztere betrachtet Kinder nicht nur als Adressaten von Schutz und Förderung, sondern anerkennt sie als eigenständige Rechtsträger. In Art. 12 erläutert die KRK, dass Kinder das Recht haben, sich zu Angelegenheiten zu äussern, die sie oder ihre Zukunft betreffen. Die KRK fordert in Art. 3 zudem, dass das Wohl des Kindes bei allen Entscheiden, von denen es betroffen ist, vorrangig zu berücksichtigen ist.

Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz

Die Leitlinien des Europarates wurden in Konsultation mit Fachpersonen aus der Justiz, der Polizei, der Sozialen Arbeit und der Psychologie erarbeitet. Zusätzlich wurden Minderjährige aus verschiedenen Ländern in die Konsultationen einbezogen. Die Ergebnisse wurden in einem Dokument des Europarates zusammengefasst, welches im ersten Teil die Leitlinien enthält und im zweiten Teil die Erläuterungen dazu. Das Dokument wurde am 17. Nov. 2010 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedet.

Wichtige Elemente der Leitlinien

In Anlehnung an Art.3 der KRK fordern die Leitlinien, dass das Wohl des Kindes im Gerichtsverfahren stets vorrangig beachtet wird. Kinder bzw. Jugendliche müssen immer mit Würde behandelt werden und ihre seelische und körperliche Integrität muss in allen Fällen gewahrt bleiben.

Gemäss den Leitlinien besitzen Minderjährige grundsätzlich das Recht, informiert und angehört zu werden. Die Reife und Verständnisfähigkeit des Kindes bzw. Jugendlichen muss dabei berücksichtigt werden. Dazu gehört beispielsweise, dass die Informationen in einer sprachlichen Form übermittelt werden, die für das Kind verständlich ist.

Kindern und Jugendlichen in allen Altersgruppen muss ein niederschwelliger Zugang zu den rechtlichen Verfahren gewährleistet werden. Sie haben auch einen Anspruch auf eine anwaltschaftliche Vertretung.

Damit ein professioneller Umgang mit Minderjährigen gewährleistet wird, wird gut ausgebildetes Fachpersonal benötigt. Personen, die während des Verfahrens mit dem Kind zu tun haben, müssen entsprechend geschult sein.

Die Leitlinien betonen auch, dass keine Diskriminierung in Bezug auf Geschlecht, Farbe, Alter, Hintergrund oder sonstige Aspekte stattfinden darf. Gewisse Kinder und Jugendliche wie z.B. unbegleitete minderjährige Asylsuchende benötigen allerdings einen besonderen Schutz.

Ausserdem fordern die Leitlinien, dass das Privat- und Familienleben von Minderjährigen geschützt wird. Dies bedeutet beispielsweise, dass keine privaten Angaben des Kindes an die Medien weitergeben werden.

Video

  • Kinder und Justiz: deine Rechte
    Trickfilm der Grundrechte-Agentur der EU

Forderungen an die Schweiz

In der Schweiz wurde 2006 der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz ins Leben gerufen. Der Verein hat sich 2012 zum Ziel gesetzt, dass die Leitlinien des Europarates unter Berücksichtigung der UN-Kinderrechtskonvention bis 2020 in der Schweiz vollumfänglich umgesetzt werden.

Basierend auf den Leitlinien des Europarates äussert der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz primär folgende Forderungen an die Schweiz: Die Schaffung eines Ombudsoffices für Kinder und Jugendliche, die Einsetzung gut ausgebildeter Kinderanwälte/-innen sowie eine bessere Umsetzung des Rechts auf Anhörung.

Ombudsoffice

Aktuell nimmt der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz Anrufe von Kindern und Jugendlichen entgegen, die Zugang zum Rechtssystem suchen. Der Verein fordert, dass in der Schweiz ein unabhängiges Ombudsoffice geschaffen wird. Dieses soll Minderjährigen in allen sie betreffenden Verfahren niederschwelligen Zugang zu Informationen, Beschwerdeverfahren und unentgeltlicher Rechtsvertretung gewährleisten. Der UN-Kinderrechtsausschuss hat 2015 die Schaffung einer Beschwerdestelle für Minderjährige in der Schweiz empfohlen.

  • Schweiz braucht ein Ombudsoffice für Kinder und Jugendliche
    Kinderanwaltschaft Schweiz, 10. Dezember 2015 (online nicht mehr verfügbar)

Rechtvertretung

Eine weitere Forderung von Kinderanwaltschaft Schweiz sind gut ausgebildete Rechtsvertretungen für Minderjährige. Das Gesetz sieht zwar in Art. 314a ZGB vor, dass Kinder und Jugendliche einen Rechtsbeistand bekommen können, allerdings nur auf Anordnung der Kindesschutzbehörde.

Kinderanwälte/-innen vertreten Kinder und Jugendliche vor Behörden und Gerichten. Ihre Aufgabe ist es, dem Willen von Minderjährigen Gehör zu verschaffen und deren Rechte zu wahren.

Die Vertretung von Kindern und Jugendlichen erfordert besondere Kompetenzen und Fähigkeiten. Kinderanwälte/-innen müssen nicht nur fachliche Voraussetzungen erfüllen, sondern auch ein hohes Mass an Empathie mitbringen und die Bedürfnisse und Sprache unterschiedlicher Altersgruppen verstehen.

Gemäss Kinderanwaltschaft Schweiz sind deshalb nebst einer juristischen Ausbildung auch Zusatzqualifikationen in Entwicklungspsychologie, Kommunikation mit dem Kind sowie Konfliktmanagement notwendig. Der Verein erachtet auch regelmässige Fortbildungen für notwendig.

Recht auf Anhörung

Das Recht von Minderjährigen auf Anhörung ist im ZGB unter Art. 314a festgehalten. Allerdings wird dieses Recht in der Schweiz nicht systematisch umgesetzt (lesen Sie hierzu unseren Artikel). Dies bestätigt unter anderem eine Studie des SKMR zum Kinderschutzrecht aus dem Jahr 2014. Der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz betont die Bedeutung des Rechts auf Anhörung für die Entwicklung der Fähigkeit bei Kindern und Jugendlichen, in schwierigen Situationen ihr Schicksal mitbestimmen zu können.

Der subjektive Kindeswille

Ein besonderes Anliegen des Vereins Kinderanwaltschaft Schweiz ist die Beachtung des subjektiven Willens von Kindern in juristischen Verfahren. Geäusserte Bedürfnisse, Wünsche und Ziele von Kindern sollen in eine Entscheidung miteinbezogen werden, wenn es um sie selbst geht und sie nicht zu jung dafür sind.

Das objektive Kindeswohl ist ein Begriff für alles, was Kinder und Jugendliche brauchen, um sich gut zu entwickeln. So wie ein sicheres Zuhause, Essen, Ausbildung und Freizeit. Dazu gehören auch die Unterstützung durch die Eltern oder andere Bezugspersonen und der Schutz vor Gefahren. Das Kindeswohl kann als Summe der Kinderrechte unter angemessener Berücksichtigung des jeweiligen Kindeswillens angesehen werden. Somit kann das Kindeswohl ohne den subjektiven Kindeswillen gar nicht bestimmt werden; beide gehören notwendig zusammen.

In einem Urteil vom 17. Dezember 2015 (BGE 5A_52/2015) hält das Bundesgericht explizit fest, dass in einem eherechtlichen Verfahren das objektive Kindeswohl zu ermitteln sei und die Rechtsvertretung der betroffenen Kinder keine subjektiven Standpunkte zu vertreten habe. Die Kinderanwaltschaft Schweiz verurteilt diese Aufgabendefinition einer Rechtsvertretung scharf, mit dem Argument, dass der subjektive Wille ein zwingender Bestandteil des Kindeswohles sei. Zudem verlangen auch die Leitlinien des Europarates, dass den Ansichten und Meinungen von Kindern Rechnung getragen werden soll. Ohne die Beachtung des subjektiven Willens verkomme die Partizipation zu einer Farce.

Vorbildliche Beispiele

Eine kindgerechte Justiz kann auf unterschiedlichste Weise umgesetzt werden. In den Leitlinien des Europarates werden Beispiele von vorbildlichen Massnahmen in verschiedenen Ländern aufgeführt.

Die Agentur für Grundrechte der Europäischen Union hat 2015 einen Bericht erstellt, in welchem sie die Perspektiven und Erfahrungen zu einer kindgerechten Justiz in zehn EU-Ländern untersucht. Dabei stellt sie fest, dass die EU-Staaten noch weit davon entfernt sind, die Leitlinien einer kindgerechten Justiz zielführend umzusetzen. Sie macht in ihrem Bericht aber auch auf zahlreiche Beispiele von «good practices» aufmerksam. Im Folgenden werden ein paar dieser vorbildlichen Praktiken gestreift.

Der Kanton Fribourg wird in den Leitlinien des Europarates als «best practice»-Beispiel im Bereich Jugendstrafrecht genannt. Der Kanton verfügt über eine Mediationsstelle für Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Das Büro für Mediation im Strafverfahren gegen Jugendliche wägt die Interessen des Klägers und des Angeklagten ab, mit dem Ziel, eine aussergerichtliche Konfliktlösung zu ermöglichen.

In Norwegen sind Ehepaare, die sich scheiden lassen und ein Kind unter 16 Jahren haben, verpflichtet, eine Mediationsstelle aufzusuchen. Die Mediationsstelle ist darum bemüht, noch vor dem richterlichen Verfahren eine Einigung im Bereich der Sorgerechtsfragen zu erzielen. Dadurch wird das Kind nicht unnötig in das Gerichtsverfahren miteinbezogen.

Grossbritannien und Finnland haben Leitlinien für die Befragung von Kindern als Opfer und Zeugen aufgestellt. Diese sollen eine möglichst effiziente und gleichzeitig schonende Befragung sicherstellen.

In mehreren Ländern, darunter auch Deutschland, werden die Aussagen von Kindern zudem auf Video aufgenommen. Anschliessend werden die Videoaufnahmen allen Verfahrensbeteiligten zugänglich gemacht. Kinder und Jugendliche müssen dadurch Aussagen über schmerzliche Erfahrungen wie häusliche Gewalt oder sexuelle Belästigung nicht wiederholen.

Die Leitlinien des Europarates erwähnen sogenannte «Kinderhäuser in Norwegen und Schweden. Polizisten/-innen, Ärzte/-innen, Anwälte/-innen und weitere Personen, die in einem Gerichtsverfahren mit einem Kind kommunizieren wollen, müssen dieses im Kinderhaus besuchen. Dadurch wird für die Kinder und Jugendlichen während solcher Begegnungen eine relativ vertraute Umgebung geboten.

In mehreren europäischen Ländern werden Kindern auch altersgerechte Hilfsmittel wie Puppen oder Zeichnungen zur Verfügung gestellt, um die Befragungssituation altersgerecht zu gestalten.

In Estland und Frankreich herrschen strikte Regeln, die den Identitätsschutz von Kindern gewährleisten. Beispielsweise werden in Estland persönliche Angaben eines Kindes in sämtlichen öffentlich zugänglichen Gerichtsunterlagen anonymisiert. Die französischen Rechtsvorschriften zur Pressefreiheit verbieten das Veröffentlichen des Namens von Kindern, welche Opfer einer Straftat geworden sind.

Personen mit einer juristischen Ausbildung, die gleichzeitig Erfahrungen mit Kindern haben, sind eher selten. Deshalb haben Grossbritannien und auch Finnland ein «Tandem-Modell» entwickelt. Bei diesem Modell werden eine Person aus dem sozialen Bereich und eine Rechtsberaterin hinzugezogen.

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