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Kopftuch an Schulen: Verbot in Schulordnung ist nicht wirksam

31.07.2013

Das Bundesgericht hat das Kopftuchverbot an der Schule von Bürglen (TG) aufgehoben. Die Schulgemeinde war für die Durchsetzung des Kopfbedeckungsverbots in ihrem Schulreglement bis ans Bundesgericht gelangt. Das Gericht hielt nun fest, dass ein solcher Eingriff in die Glaubensfreiheit der Schülerinnen nicht ohne gesetzliche Grundlage erfolgen darf. Die Grundsatzfrage, ob ein Verbot mit der Bundesverfassung vereinbar wäre, liess das Bundesgericht offen. Das Gerichtsurteil hat die Debatte über ein Kopftuchverbot für Schülerinnen neu belebt. Einige bürgerliche Politiker stellen entsprechende Vorstösse in Aussicht. Die Reaktionen aus dem Bildungssektor sind derweil gelassen.

Schulreglement genügt nicht

Die Thurgauer Schulgemeinde Bürglen hält in ihrer vor 15 Jahren erlassenen Schulordnung Bekleidungsvorschriften fest. Unter anderem steht da: «Der vertrauensvolle Umgang untereinander bedeutet, dass die Schule ohne Kopfbedeckung besucht wird. Aus diesem Grund ist das Tragen von Caps, Kopftüchern und Sonnenbrillen während der Schulzeit untersagt.» 2011 ersuchten zwei damals 14-jährige muslimische Mädchen um einen Dispens vom Kopftuchverbot. Die Behörden verweigerten diesen, worauf die Eltern der Mädchen an das Verwaltungsgericht gelangten. Dieses hiess 2012 deren Beschwerde gut. Die Schülerinnen gingen in der Folge mit Kopftuch zur Schule. Die Schulgemeinde wollte es nicht darauf bewenden lassen und reichte Beschwerde beim Bundesgericht ein.

Am 11. Juli 2013 hat das Bundesgericht die Beschwerde der Gemeinde abgelehnt und das Kopftuchverbot einstimmig als unzulässig beurteilt. Es befand, das Verbot des Tragens eines Kopftuches stelle einen Eingriff in die Glaubensfreiheit der Schülerinnen dar. Für einen Teil der Musliminnen handle es sich um eine Glaubensregel, die sie aus religiösen Gründen beachten müssten. Das Verbot des Tragens eines Kopftuches bedürfe daher einer formellen gesetzlichen Grundlage und über ein solches Gesetz verfüge Bürglen nicht.

Bundesgericht äussert sich nicht zur Grundsatzfrage

Die Bundesrichter entschieden mit drei gegen zwei Stimmen, sich im schriftlichen Urteil nicht zum  Kopftuchverbot an Schulen generell zu äussern. Sie liessen die Frage offen, ob und unter welchen Bedingungen ein Gesetz, welches das Tragen religiöser Symbole in der Schule verbietet, mit der in der Bundesverfassung garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) vereinbar wäre. Die Richter begnügten sich damit, die fehlende gesetzliche Grundlage festzustellen. Es sei deshalb im vorliegenden Fall nicht zu prüfen gewesen, ob «für ein solches Verbot ein hinreichendes öffentliches Interesse bestünde und ob dieses verhältnismässig wäre», schreibt das Bundesgericht in seiner Medienmitteilung.

Der Bundesgerichtsentscheid bedeutet, dass die Behörden ein Kopftuchverbot gegenüber Schülerinnen nur durchsetzen könnten, wenn ein Parlament ein entsprechendes Gesetz erlassen hat (und die Bevölkerung damit die Möglichkeit hatte, das Referendum gegen die Bestimmung zu ergreifen). Derzeit verfügt kein Schweizer Kanton über ein solches Gesetz. Eine Regelung auf Bundesebene ist unwahrscheinlich, weil dies einen empfindlichen Eingriff in die Kantonshoheit bedeuten würde. Bisher und bis auf weiteres gilt deshalb, dass in der Schweiz Mädchen die Schule mit Kopftuch besuchen dürfen, auch wenn das Schulreglement dies verbietet.

Kopftuchverbot für Genfer Lehrerin

Demgegenüber dürfen die Behörden es einer Lehrerin in der Schweiz unter gewissen Umständen verbieten, mit dem Kopftuch zu unterrichten. Dies entschied das Bundesgericht 1997. Es hielt damals fest, dass das private Interesse am Tragen eines religiösen Symbols der Lehrerin eingeschränkt werden darf, weil das öffentliche Interesse an einer klaren Trennung von Kirche und Staat (Laizismus) und der ideologischen Neutralität der Schulen grösser ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stützte diese Ansicht.

Allerdings beliess auch hier die Rechtsprechung Raum für individuelle Lösungen. Im konkreten Genfer Fall gewichtete das Bundesgericht den Umstand als bedeutend, dass die Lehrerin kleine Kinder unterrichtete, die leichter zu beeinflussen seien. Ausserdem wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass der Kanton Genf eine besonders strenge Tradition des Laizismus kennt. Es ist also fraglich, ob ein analoger Gerichtsfall in einem andern Kanton zum selben Resultat führen würde.
Ein weiterer Leitentscheid in Sachen Kopftuch fällte das Bundesgericht 2008. Es hielt damals fest, dass eine Einbürgerung nicht wegen des Kopftuchs verweigert werden kann.

Politische Reaktionen

Der Umstand, dass das Bundesgericht die Frage des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit eines Verbots nicht beurteilt hat, blieb nicht ohne Auswirkung auf das politische Umfeld. Seit dem Urteil, das am 11. Juli 2013 erging, haben sich die Stimmen innerhalb der bürgerlichen Parteien gemehrt, die ein Gesetz auf kantonaler oder eidgenössischer Ebene fordern. Für sie besteht kein Zweifel, dass ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht, das Grundrecht der Betroffenen (hier die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Schülerinnen) zu beschneiden und das Kopftuch aus den öffentlichen Schulen zu verbannen.

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Fall im Kanton St. Gallen. Die vom SVP-Regierungsrat Stefan Kölliker geführte St. Galler Bildungsdirektion hatte 2010 in einem Kreisschreiben ein generelles Kopfbedeckungsverbot empfohlen. Im Juni 2013 hatte die Schule Au-Heerbrugg (SG) deshalb zwei 11- und 12-jährigen Schülerinnen aus somalischen Familien das Tragen des Kopftuchs in der Schule untersagt. Auf Druck der Öffentlichkeit strich der Schulrat das Verbot allerdings wieder und umging damit die Empfehlung der Regierung. Nun plant die St. Galler SVP gemäss Medienberichten einen Vorstoss im Kantonsparlament mit dem Ziel, ein Kopftuchverbot im kantonalen Volksschulgesetz zu verankern. Die SVP Thurgau hegt ähnliche Pläne.

Argumente für ein Verbot

Für CVP-Präsident Christophe Darbellay ist ein Verbot des Kopftuchs in den Klassen eine Frage der Integration. Der Laizismus rechtfertige eine solche Massnahme, findet auch FDP Vize-Präsident Christian Lüscher im Le Courrier: «Unsere Schulen sind laizistisch, alle Kinder müssen sich dort integrieren. Und wenn die Eltern ihre Mädchen wegen des Verbots nicht einschulen, dann können wir sagen, dass sie sich nicht integrieren wollen und sie zurückschicken.» 

Argumente für ein Verbot führt auch Saïda Keller-Messahli vom Forum für einen fortschrittlichen Islam ins Feld. Ihrer Ansicht nach stützt das Bundesgerichtsurteil fundamentalistische Muslime in ihrem Bestreben, Kinder zu indoktrinieren und geschlechtsreife Mädchen durch Kopftücher zu kennzeichnen. Auch muslimische Kinder müssen nach Ansicht von Keller-Messahli die Möglichkeit haben, sich eine eigene freie Meinung zu bilden. Gerade für Kinder aus religiös geprägten Haushalten wäre es ihrer Ansicht nach wichtig, mit der Schule einen Ort zu haben, der ihnen ausreichenden Schutz zur freien Entfaltung bietet.

Argumente für den Status quo

Andere Stimmen finden ein Verbot kontraproduktiv. Junge muslimische Mädchen aus streng religiösen Familien wären gezwungen, daheim zu bleiben, meint etwa die frühere Nationalrätin und heutige Präsidentin der Eidg. Kommission gegen Rassismus, Martine Brunschwig-Graf (FDP). Sie ist überzeugt, dass dieser Schritt die Gründung von privaten islamischen Schulen  vorantreiben würde und meint, gegen solche Schulen könnte sich der Staat kaum zur Wehr setzen. All dies dürfte die betroffenen Mädchen noch weniger dazu befähigen, eines Tages eine freie Wahl bezüglich ihres Glaubens zu treffen. Auf jeden Fall, meint Brunschwig-Graf, würden diese absehbaren Konsequenzen des Verbots das Argument der Integration entkräften.

Die Reaktionen aus den kantonalen Volksschulämtern, Bildungsdirektionen und vom Lehrerverband auf das Urteil des Bundesgerichts waren ihrerseits verhalten bis wohlwollend. Ist dies darauf zurück zu führen, dass die Schulgemeinden vielerorts gelernt haben, mit Kopftüchern differenziert umzugehen und den Einzelfall, bzw. die Umstände im betroffenen Schulkreis in die Beurteilung der Frage miteinzubeziehen? Von Seiten erfahrener Lehrkräfte wird manchmal auch betont, die Anwesenheit von kopftuchtragenden Schülerinnen sei im Alltag primär als Chance für gelebte Toleranz zu betrachten, wobei alle Schülerinnen und Schüler profitieren würden.

Kurzfristig erwarten Rechtsexperten jedenfalls keine weiteren Leitentscheide des Bundesgerichts in der Frage der Zulässigkeit eines Kopftuchverbots für Schülerinnen. Daniel Vischer, Nationalrat (Grüne) und Rechtsanwalt der beiden Mädchen aus Bürglen meint, dass mit dem Entscheid des Bundesgerichts die Wahrscheinlichkeit für ein schweizweites Kopftuchverbot für Schülerinnen eher gesunken sei.

Position des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Bleibt festzuhalten, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kaum gegen ein in der Schweiz beschlossenes Kopftuchverbot aussprechen würde. Im Falle von Frankreich und der Türkei hat der Gerichtshof das Recht des Staates anerkannt, das Tragen des Kopftuches in Schulen und Universitäten zu verbieten. In Frankreich wie in der Türkei  ist die Trennung von Kirche und Staat ein Grundsatz mit Verfassungsrang, dessen Verteidigung fundamental ist, insbesondere in der Schule, befanden die Richter im Urteil Dogru gegen Frankreich vom 4. Dezember 2008.

Allerdings bedeuten diese Urteile kein Präjudiz für analoge Fälle aus anderen Ländern. Denn gerade in Fragen wie dem Kopftuchverbot gesteht der EGMR den Staaten einen grossen eigenen Gestaltungsspielraum ein.

Quellen

Weiterführende Informationen