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Massenüberwachung: Politische Entwicklungen in der Schweiz

29.05.2014

Die Reaktionen in der Schweiz auf die Enthüllungen von Edward Snowden über das Ausmass der Massenüberwachung durch den US-Geheimdienst NSA im Sommer 2013 waren ambivalent. Auffällig war, dass der Bund die Bedeutung der Überwachung durch die USA eher herunterspielte. Fakt ist, dass der US-Geheimdienst auf die digitalen Daten von Einwohnern/-innen der Schweiz weitgehend Zugriff hat. Deshalb wurden in der Schweiz immer mehr Stimmen laut, die den Bundesrat auffordern, den Schutz der Privatsphäre in der digitalen Kommunikation ernst zu nehmen und auszubauen.

Der vorliegende Artikel behandelt die politische Entwicklung zu dieser Frage in der Schweiz bis Anfang 2016, als unter dem Eindruck der Terror-Attacken in Frankreich im Jahre 2015 die Befürworter von stärkerer Überwachung wieder mehr Zustimmung erhalten haben.

Für die Hintergründe auf internationaler Ebene im Zusammenhang mit Schutz der Privatsphäre und Terrorbekämpfung lesen Sie bitte auch Massenüberwachung durch die NSA - eine Menschenrechtsverletzung.

Wurden Schweizer/innen ausspioniert?

Im Parlament musste der Bundesrat in der Wintersession 2013 zu Fragen über die Tätigkeit des Geheimdienstes und die Zusammenarbeit mit den USA Stellung nehmen. Ausländische Medien hatten im Herbst 2013 berichtet, dass die Schweizer Behörden eng mit der NSA zusammenarbeiten. Bekannt ist etwa, dass seit 2002 der Datenaustausch mit den USA stetig ausgebaut wurde. US-Ermittler dürfen aufgrund der Antiterrorabkommen mit der Schweiz hierzulande etwa eigenhändig gegen Terrorverdächtige vorgehen. Es ist nach Einschätzungen von Experten/-innen auch davon auszugehen, dass Daten, welche die Schweizer Geheimdienste über ihre Abhöranlagen abgefangen haben, in die Hände der USA gelangten. Zudem gibt es unbestätigte Berichte über eine US-Abhörzentrale in Genf und auch gegen die US-Botschaft in Bern wurden Verdächtigungen laut.

Anfang Dezember 2013 hatte der Bundesrat der Bundesanwaltschaft erlaubt, wegen Spionagetätigkeit ausländischer Agenten/-innen zu ermitteln. Der Ständerat hatte zudem in der Wintersession 2013 beschlossen, dass er mehr über das Thema erfahren will. Ein Postulat von Luc Recordon (VD, Grüne) bat den Bundesrat darum, einen Bericht darüber vorzulegen, welche Risiken die Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnik für die Persönlichkeitsrechte darstellen und welche Lösungen dafür denkbar sind. Das Postulat wurde vom Parlament zwar angenommen, aber vom Bundesrat noch immer nicht behandelt.

Weiter hatte das Parlament 2014 gegen den Willen des Bundesrats eine Motion von Paul Rechsteiner (SG/SP) angenommen, die eine Experten/-innenkommission für Datenbearbeitung und -sicherheit fordert. Die bisherigen Bemühungen des Bundesrats in der Sache seien zu stark auf die Bedürfnisse des Staates und des Militärs konzentriert gewesen. «Die Sicht auf die Wirtschaft und die Gesellschaft fehlt», sagte Ständerat Paul Rechsteiner (SG/SP). Die Expertenkommission mit dem Namen «Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit» wurde Ende August 2015 von Bundesrätin Evelyne Widmer-Schlumpf eingesetzt. Die Arbeit des Gremiums ist auf drei Jahre befristet. Aufgabe der Kommission ist es, unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Dimension Fragen zu beantworten, die sich im Zusammenhang mit Big Data, der Datenbearbeitung und Datensicherheit sowie den Risiken und Chancen der rasanten Entwicklung in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) stellen.

Der Rechtsrahmen des Nachrichtenwesens

Das Bundesgesetz und die Verordnung betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF, VÜPF) regeln zusammen mit der Strafprozessordnung (StPO) die Zwangsmassnahmen, welche den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stehen. Darin wird etwa die Vorratsdatenspeicherung (die Pflicht der Telefon- und Internetdienste, im Auftrag des Staates gewisse Aktivitäten ihrer Kunden/-innen aufzuzeichnen) festgeschrieben. Die Daten müssen von den Betreibern für 6 Monate abgelegt und auf Verlangen an Strafverfolgungsbehörden herausgegeben werden. Um eine Überwachung anzuordnen, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. So muss etwa ein Strafverfahren eingeleitet sein. Auch muss die Schwere der Tat die Massnahme rechtfertigen. Eine durchgehende oder pauschale Überwachung des Schweizer Datenverkehrs ist nicht erlaubt.

Im Übrigenist die in der Schweiz bestehende Regelung der Vorratsdatenspeicherung mit einem Urteil des Europ. Gerichtshofs vom 8. April 2014 zumindest diskutabel geworden. Der Gerichtshof hat ein EU-Richtlinie, welche die Vorratsspeicherung von Daten für 6 Monate festschreibt, mit Verweis auf die Achtung des Privatlebens und dem Schutz personenbezogener Daten für ungültig erklärt.

Dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) stehen weitere Möglichkeiten offen. Er darf im Inland auf der Grundlage des veralteten Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) Personendaten sammeln und Verdächtige auch ausserhalb eines Strafverfahrens überwachen. Dazu führt der Geheimdienst das Informatisierte Staatsschutz-Informationssystem (ISIS) mit Daten von verdächtigen Personen im Inland. Die Tätigkeiten des schweizerischen Geheimdienstes im Ausland sind ferner im Zivilen Nachrichtendienstgesetz (ZNDG) und der Vorordnung über die Nachrichtendienste (VND) geregelt. Diese regeln auch die Datenübermittlung ins Ausland; diese ist im Einzelfall erlaubt (Art. 5 Abs. 3 ZNDG). Der Nachrichtendienst führt zudem geheime Abhörablagen auf der Basis der Verordnung über die elektronische Kriegsführung.

Mehr Kompetenzen für den Staatsschutz (Update März 2016)

Die schweizerischen Gesetze sind veraltet. Die Projekte zur Revision des BÜPF und des BWIS beschäftigen den Bund seit Jahren. Letzteres Vorhaben endete im 2015 mit einem neuen Nachrichtengesetz, das in einer Referendums-Abstimmung im Juni 2016 noch bestätigt werden muss (vgl. unseren ausführlichen Artikel zum neuen NDG).

Bei der Revision des BÜPF ist im März 2016 ein wichtiger Vorentscheid gefallen: Es soll auch in Zukunft möglich sein, die Telefonranddaten «nur» während 6 Monaten aufzubewahren (statt wie vorgesehen 12 Monate). Strittig zwischen dem National- und Ständerat ist hingegen noch die Aufbewahrungspflicht für diese Daten.

Datenschützer kämpft gegen Gleichgültigkeit

Der digitale Fortschritt bringt erhebliche Risiken für die Privatsphäre, wie der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte, Hanspeter Thür, immer wieder betont. Er findet in einem Essay, der Fokus auf staatliche Überwachung greife zu kurz. Denn längst gebe es keine harmlosen Daten mehr. Daten, die private Firmen über ihre Kunden und User sammeln, würden im Bedarfsfall von den Behörden genutzt - nicht nur in den USA.

Für den Datenschützer ist klar, dass Firmen und Staaten machen, was technisch machbar ist, ausser sie werden durch Verantwortungsbewusstsein, Verfassung und Gesetze eingeschränkt. Er stellt in Aussicht, dass in absehbarer Zeit jeder auf dem Globus, der aus irgendeinem Grund in den Fokus bestimmter politischer, geheimdienstlicher oder wirtschaftlicher Interessen gerät, bis in weite Teile seiner Persönlichkeit durchleuchtet wird. Dies hat gemäss Thür zur Folge, dass andere Menschen Dinge über einen wissen, die man selber nicht weiss.

Angesichts dieser Risiken gelte es, den Schutz der Freiheitsrechte (Schutz der Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung) auch im digitalen Bereich festzuhalten, schreibt Thür. Die Schweiz und Europa müssten deshalb ihre Datenschutzgesetze ausbauen. Zudem seien klarere Datenschutzregeln für multinationale Unternehmen nötig, die in der Schweiz tätig sein wollen.

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