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Rassistisches Profiling: Polizei sieht keinen Handlungsbedarf

13.12.2016

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte SKMR hat am 1. Dezember 2016 eine Fachtagung zu diskriminierenden Personenkontrollen durchgeführt. Als Referierende waren Markus Mohler (Experte im Polizeirecht), Claudia Kaufmann (Ombudsfrau der Stadt Zürich), Marc Bossuyt (UNO-Ausschuss gegen rassisrtische Diskriminierung), Rebekah Delsol (Open Justice Foundation) und Stefan Blättler (Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten KKPKS und Polizeikommandant des Kantons Bern) eingeladen.

Wie sehr die Meinungen auseinandergehen, zeigte die abschliessende Podiumsdiskussion. Hierbei kam es zu einer Kontroverse mit teils diametral auseinanderliegenden Positionen zwischen Diskriminierungsexperte Tarek Naguib und Stefan Blättler.

Gute Praktiken aus Grossbritannien

Die aus England angereiste Referentin Rebekah Del sol von der Organisation Open Society Foundations präsentierte einen wissenschaftlich fundierten Erfahrungsbericht zur Politik gegenüber rassistischem Profiling in England. Sie zeigte in ihrem Vortrag auf, wie eine Problematisierung von «Rassismus» in der der Polizeiarbeit dazu führen kann, dass diskriminierende Personenkontrollen abgebaut werden und gleichzeitig die Effizienz der Polizeiarbeit zunimmt.

Massnahmen für eine erfolgreiche Polizeireform

Als Kernmerkmale einer erfolgreichen Polizeireform bezeichnete Delsol einerseits die Schaffung konkreter rechtlicher Grundlagen und Vorschriften, welche die Kriterien für Personenkontrollen genau umschreiben. Eine weitere wichtige Massnahme sei die Erfassung und Überwachung von Daten zu Personenkontrollen. Hierfür stelle das Quittungssystem einen zentralen Pfeiler dar. Die Polizeibeamten stellen für jede Personenkontrolle eine Quittung aus, welche den Namen des kontrollierenden Beamten, den Anlass der Kontrolle und Angaben zur kontrollierten Person enthält. Dank dieser kontinuierlichen Datensammlung können Entwicklungen beobachtet werden und durch die Veröffentlichung der anonymisierten Daten ist es NGOs möglich, sich einzubringen. Die Massnahmen haben nachweislich zu einer deutlichen Abnahme von diskriminierenden Polizeikontrollen geführt.

Das Quittungssystem wird gemäss Delsol mittlerweile auch innerhalb der Polizei als sehr wirksames Instrument betrachtet. So könne man z.B. geografische Karten erstellen, die aufzeigen, welche Menschenkategorien in bestimmten Stadtquartieren oder ländlichen Bezirken zu welchem Zweck angehalten wurden. Diese statistische Datengrundlage sei für die Ausarbeitung einer effizienten Polizeistrategie absolut zentral.

Die Daten zur Polizeiarbeit sind auf folgender Website für alle öffentlich zugänglich:

  • data.police.uk
    Offen zugängliche Daten über Kriminalität und Polizei in England

Gefordert sind progressive Führungskräfte

Delsol bezeichnete die Anerkennung des institutionellen Rassismus durch Verantwortungsträger/innen als wegweisend für die positiven Entwicklungen in England. Der Fortschritt sei nur möglich gewesen, weil sich Politiker/innen und Polizeikommandanten – insbesondere auch aus dem konservativen politischen Spektrum – an vorderster Front für eine progressive Polizeiarbeit eingesetzt hätten.

So äusserte sich etwa der Londoner Polizeikommandant Bernard Hogan-Howe im Jahr 2012 mit den Worten: «Wir haben eine klare Vision…die Durchführung von Personenkontrollen wird in Zukunft viel wirkungsvoller und zielgerichteter eingesetzt. Dies wird zu besseren Ergebnissen führen. Die Kontrollen werden mit Würde und Respekt durchgeführt und dienen hauptsächlich dem Schutz unserer Bevölkerung vor Gewaltverbrechen und anderen schweren Verbrechen».

Auch die heutige Premierministerin Theresa May sagte 2012: «Niemand profitiert davon, wenn Personenkontrollen falsch angewendet werden. Es handelt sich um eine Verschwendung von polizeilicher Arbeitszeit. Es ist ungerecht, insbesondere gegenüber jungen, schwarzen Männern. Es ist schlecht für das öffentliche Vertrauen in die Polizei».

Stefan Blättler: «Diskriminierende Personenkontrollen sind kein institutionelles Problem»

Der Präsident der KKPKS und Polizeikommandant des Kantons Bern Stefan Blättler ist nicht bereit, eine proaktive Strategie im Kampf gegen rassistisches Profiling einzuschlagen. Dies machte er sowohl in seinem Referat, wie auch in der anschliessenden Podiumsdiskussion deutlich. Er habe die Ausführungen seiner Vorrednerin Delsol zwar mit Interesse zur Kenntnis genommen, eine Übertragbarkeit auf die Schweiz sei aber nicht gegeben.

Ausbildung, zwischenmenschlicher Kontakt und kulturelle Durchmischung

Diskriminierende Personenkontrollen seien in der Schweiz Einzelfälle und kein institutionelles Problem. Es könne immer wieder vorkommen, dass sich einzelne Polizisten aufgrund von mangelnder Erfahrung oder mangelndem Wissen unkorrekt verhalten. Deshalb sei es wichtig, dass in der Polizeiaus- und weiterbildung anhand von einfachen Beispielen vermittelt werde, wie sich ein Polizist oder eine Polizistin in bestimmten Situationen zu verhalten habe. Das Prinzip der Verhältnismässigkeit etwa könne den Polizeibeamten/-innen vemittelt werden, indem man sie fragt, welche Handlung dem gesunden Menschenverstand entsprechen würde.

Blättler warnte davor, noch mehr gesetzliche Grundlagen und Vorschriften zu schaffen. Diese würden in der Realität nicht gelesen. Viel wichtiger sei es, die vorhandenen Grundlagen wie das Diskriminierungsverbot gut umzusetzen. Als geeignete Massnahmen bezeichnete Blättler den Kontakt mit verschiedenen Beratungsstellen und Bevölkerungsgruppen (etwa bei einem Fussballspiel im Rahmen des African Culture Cups), der Einsatz von sog. Brückenbauern (in der Präventionsarbeit), die kulturelle Durchmischung innerhalb des Korps sowie – in Fällen von Übergriffen - personalrechtliche Sanktionen.

Polizeiquittungen sind kein Thema

Das Ausstellen von Quittungen bei Personenkontrollen lehnte Blättler entschieden ab. Dies bringe nichts und führe nur zu zusätzlicher Bürokratie. Schon jetzt würden die Beamten die Hälfte ihrer Arbeitszeit vor dem Computer verbringen. Zudem seien die Ressourcen der Polizeikorps schon heute überstrapaziert.

Tarek Naguib fordert institutionelle Massnahmen

Diskriminierungsexperte Tarek Naguib widersprach dem Polizeikommandanten Blättler in der abschliessenden Podiumsdiskussion in zahlreichen Punkten. Letzterer verharmlose das Problem, indem er es psychologisiere und auf die Ebene des einzelnen Polizisten verlagere. Wissenschaftliche Studien und Erfahrungsberichte von Betroffenen würden hingegen zeigen, dass rassistisch diskriminierende Personenkontrollen in den institutionellen Praxen der Polizei selbst angelegt seien, und bei Weitem kein Ausnahmefall darstellten.

Nicht der Einzelfall und die einzelnen Polizisten/-innen bzw. ihre Einstellung stehen gemäss Naguib im Vordergrund, sondern institutionell gestützter Rassismus, der so lange bestehen bleibe, als er nicht mit gezielten Massnahmen der Polizeiführung und der Politik bekämpft werde. Der Nutzen von polizeilichen Quittungen sei hinlänglich wissenschaftlich bewiesen. Vor diesem Hintergrund sei die Abwehrhaltung und massive Verharmlosung des Problems durch den obersten Schweizer Polizeikommandanten unverständlich.

Konkrete Normen in kantonalen Gesetzen

Naguib wies darauf hin, dass es in der Schweiz eine grosse Diskrepanz zwischen dem generell-abstrakten Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung und der Rechtswirklichkeit gebe. Die Hürden für eine Prozessführung seien aus verschiedenen Gründen sehr hoch angelegt. Zu den Prozesshürden gehören neben dem Kostenrisiko und der Gefahr einer Gegenanzeige, dass sich die Betroffenen im Rechtsverfahren öffentlich exponieren und dadurch Widerständen aussetzen müssen. Auch ist die Beweisführung faktisch unmöglich, weil der Polizei mehr Glauben geschenkt wird als den von Rassismus Betroffenen; hinzu kommt, dass aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei die Unabhängigkeit der Untersuchung in vielen Kantonen und Städten nicht gewährleistet ist.

Nur die wenigsten Fälle gelangen überhaupt an die Oberfläche. Dies zeige sich gemäss Naguib z.B. im Rahmen von Workshops mit dunkelhäutigen Schweizer Jugendlichen und Jugendlichen, deren Eltern aus Südosteuropa stammen. Sie kennen praktisch alle die Erfahrung, anlasslosen polizeilichen Personenkontrollen unterzogen zu werden. Die Jugendlichen selber beschreiben diese Kontrollen als «normal» und kämen nicht auf die Idee, sich dagegen zu wehren. Sie haben den Rassismus also als Normalität akzeptiert – es ist eine Normalität, die sie prägt.

Damit das Recht auch «wirklich bei den Leuten ankommt», brauche es deshalb konkrete Normen in kantonalen Gesetzen und in Dienstvorschriften. Die rechtssoziologische Forschung zeige eindeutig, dass eine Konkretisierung des hoch angesiedelten und damit auch «fernen» verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes in Polizei- und Personalgesetzen sowie Dienstanweisungen für eine tatsächliche Umsetzung des Diskriminierungsschutzes unerlässlich sei. Zudem handle es sich bei der Rechtssetzung um einen Prozess, der zu einer echten Auseinandersetzung innerhalb der Organisation aber auch in Parlamenten und Verwaltungen sowie der Gesamtgesellschaft mit der Thematik führe. Dass neue rechtliche Grundlagen der Polizei einfach «vorgesetzt» würden, sei deshalb eine verkürzte Argumentation von Blättler.

Vorwand von «Zuviel Bürokratie» legitimiert keine Menschenrechtsverletzungen

Unverständnis zeigte Naguib auch für Blättlers Hinweis auf «zusätzliche Bürokratie» und «fehlende Ressourcen». Der Schaden von rassistischem Profiling für die Gesellschaft und für die betroffenen Personen sei enorm. Es handle sich vor diesem Hintergrund ganz einfach um eine menschenrechtliche Pflicht, die vorhandenen und wissenschaftlich geprüften Massnahmen anzuwenden, um diesen Misstand zu bekämpfen.

Aus rechtlicher Sicht sei zudem die Argumentation von Blättler, dass die Hautfarbe eines von mehreren Kriterien für eine Kontrolle sein darf, höchst fragwürdig. So habe ein deutsches Oberverwaltungsgericht im April 2016 entschieden, dass die Kontrolle anhand der Hautfarbe auch dann als rechtswidrige Diskriminierung angesehen werden muss, wenn die Hautfarbe nur zum Teil Grund der Massnahme war. In jedem Einzelfall muss alleinig das individuelle Verhalten und nicht die äussere Erscheinung ausschlaggebend sein.

Dokumentation