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2024: Beratungsarbeit und Themen im Freiheitsentzug

17.06.2025

humanrights.ch bemüht sich, eine Lücke im Rechtsschutz zu schliessen, indem wir niedrigschwellige und unabhängige Rechtsberatung für Inhaftierte und ihre Angehörigen anbieten – entweder über unsere Telefonhotline, E-Mail oder per Briefpost. Im letzten Jahr erhielten wir in der Beratungsstelle 258 Anrufe und verzeichnen 1572 schriftliche Ein- und Ausgänge – und es wären viele mehr, könnten wir dem Bedarf gerecht werden.

Die Beratungsarbeit in Zahlen

Im Zentrum unserer Tätigkeit steht die niederschwellige rechtliche Beratung von Menschen im Justizvollzug und deren Angehörigen. Über unsere wöchentliche Hotline am Donnerstagnachmittag erhielten wir im Jahr 2024 insgesamt 258 Anrufe. Darüber hinaus führten wir eine Vielzahl schriftlicher Beratungen per Briefpost und E-Mail durch. In unserer Datenbank wurden insgesamt 1572 schriftliche Ein- und Ausgänge dokumentiert. Im Total haben wir im letzten Jahr 207 neue Beratungsdossiers eröffnet. Bei den betroffenen Inhaftierten handelte es sich bei 183 um Männer (88%).

Interessant ist, dass unter den Personen, die die Beratungsstelle kontaktierten, insgesamt 80 – also in 44% der Fälle – Angehörige Rat suchten. Dies zeigt, dass eine Inhaftierung nie isoliert betrachtet werden darf. Vielmehr schliesst eine Haftstrafe auch unschuldige Familienangehörige, Freund*innen und Lebenspartner*innen mit ein.

Die meisten Dossiereröffnungen erfolgten aus der JVA Pöschwies (17), gefolgt von der JVA Thorberg (15), dem Regionalgefängnis Burgdorf (15), der JVA Hindelbank (12), dem Gefängnis Gmünden, Regionalgefängnis Bern und Gefängnis Zürich West (je 9) sowie dem Bezirksgefängnis Aarau (8).

In den meisten Fällen befanden sich die Betroffenen im Strafvollzug (63), in U-Haft (49), im stationären Massnahmenvollzug nach Art. 59 (17) oder im vorzeitigen Strafvollzug (14).

Die häufigsten Beratungsthemen innerhalb eines sehr grossen Themenkatalogs waren Fragen rund um das hängige Strafverfahren, das Urteil oder die Revision (19), den Kontakt zur Aussenwelt (17), die Rechte von Angehörigen (16), die medizinische Versorgung (16), der Umgang mit Behörden (13), strafprozessuale Fragen zur U-Haft (11), der Landesverweis/die Ausschaffung (11) sowie Probleme mit der anwaltschaftlichen Verteidigung (10).

Fokusthemen

Aufgrund der Auswertung der häufigsten Beratungsthemen setzten wir im 2024 das Thema Gesundheit im Freiheitsentzug in den Fokus. Nina Müller – Mitarbeiterin in der Beratungsstelle bis Abschluss ihres Masters of Law Ende 2024  – schrieb ihre Masterarbeit zu diesem Thema. Für humanrights.ch fasste sie die wichtigsten Erkenntnisse in einem Artikel zusammen.

Ebenfalls unter dem Aspekt der Gesundheit thematisierten wir die Frage des Sterbens in Freiheitsentzug, u.a. angesichts der zunehmenden Population älterer Gefangener.

Ein zentraler Aspekt im Zusammenhang mit der Gesundheit ist die Prüfung der Hafterstehungsfähigkeit. Auch zu diesem Thema konnten wir in Zusammenarbeit mit der Universität Lausanne eine Masterarbeit verfassen lassen.

Schliesslich standen die Rechte von Angehörigen im letzten Jahr stärker im Vordergrund. Ein zentraler Aspekt dabei sind die Besuchsrechte. Ebenfalls im Rahmen einer Masterarbeit wurde untersucht, welche Rolle die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen und Kontakten zur Aussenwelt für die psychische Gesundheit von Menschen in Freiheitsentzug spielt.

Strategische Fälle

Aufgrund der Tatsache, dass humanright.ch eine Anlaufstelle für strategische Prozessführung aufgebaut hat, werden gewisse Themen anhand von einzelnen Fällen stärker in den Fokus genommen. Einhergehend mit den oben beschriebenen Fokusthemen wurden im letzten Jahr zwei Fälle strategisch angegangen.

Recht auf Leben: Suizid in Polizeigewahrsam

Die Mutter von Alex Berger (Name geändert) nahm Kontakt mit uns auf, weil sich ihr Sohn kurz nach seiner Verhaftung an seiner Arbeitsstelle – im Beisein seiner Arbeitskolleg*innen – in Polizeigewahrsam das Leben genommen hatte. Eine erste Untersuchung zeigte, dass er ohne ausreichende medizinische Abklärung und Überwachung untergebracht worden war. In einem strategischen Prozess soll nun geklärt werden, ob die bestehenden Richtlinien zum Umgang mit Haftschocks menschenrechtlichen Standards entsprechen und ob eine Staatshaftung vorliegt. Das Thema Todesfälle und Suizid in Haft beschäftigt uns schon länger, auch in Zusammenhang mit zwei anderen strategischen Fällen (Kilian und Raphael K.), die wir seit mehreren Jahren begleiten.

Recht auf Gesundheit: Zelleneinschluss bei Krankheit

Aufgrund mehrerer Meldungen aus verschiedenen Gefängnissen, dass Gefangene bei nichtinfektiöser Krankheit in den Zellen eingeschlossen werden, haben wir im letzten Jahr eine Umfrage bei Haftanstalten gemacht. Wir wollten herausfinden, ob der Zelleneinschluss bei Krankheit eine gängige Praxis ist und ob bei diesem Grundrechtseingriff eine genügende gesetzliche Grundlage vorliegt. Mit der Hoffnung, mit dieser Umfrage bereits eine Sensibilisierung zu diesem Thema erreicht zu haben, erarbeiteten wir die Grundlagen, um weiteren analogen Vorfällen systematisch zu begegnen.

Organisation der Beratungsarbeit

Die Beratungsstelle wurde im vergangenen Jahr durch MLaw Nina Müller (30% Pensum) und Rechtsanwältin Livia Schmid (50% Pensum) getragen. Für besonders komplexe Fragestellungen – insbesondere im Bereich des Massnahmenvollzugs – standen uns die erfahrenen Strafverteidiger*innen Lena Reusser, Julian Imfeld und Stephan Bernard zur Seite. Im Rahmen eines rotierenden Pikettdienstes übernahmen sie wöchentlich für eine Stunde weitergeleitete Anrufe – unentgeltlich und mit grossem Engagement. Sie zeigten den Ratsuchenden mögliche rechtliche Handlungsspielräume auf und stärkten so deren Handlungsfähigkeit.

Ab August 2024 erhielt das Team wertvolle Unterstützung durch drei engagierte Studierende der Human Rights Law Clinic Bern: Serafina Walliser, Alessia Chester und Lorin Criblez absolvierten bei uns ein Kurzpraktikum und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Bearbeitung von Anfragen.

Auch 2024 wurde die Qualität unserer Arbeit durch regelmässige Supervisionen gewährleistet. Der erfahrene Anwalt und Mediator Stephan Bernard begleitete die Beratungsarbeit eng und stand zudem im Rahmen eines festen Mandats für Rücksprachen und juristische Inputs zur Verfügung. Diese kontinuierliche Reflexion und externe Unterstützung trugen wesentlich zur Konsolidierung, aber auch Fokussierung der Beratungsarbeit bei. 

Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Tätigkeit lag auf der fachlichen Vernetzung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit.

Mit dem Ziel einen kantonsübergreifenden Wissenstransfer zu Fragen des Freiheitsentzugs sicherzustellen, organisierten wir im Mai 2024 ein Austauschtreffen der Anwält*innen unserers fachlichen Netzwerks. Nach einem Inputreferat von Patrick Cotti, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug, stellte der Netzwerkanwalt Julian Burkhalter zusammen mit seinem Mandanten den EGMR-Fall I.L. c. Suisse N°2 vor.

Ausserdem beteiligten wir uns an verschiedenen Veranstaltungen und Austauschformaten, darunter:

  • Besuch des Gesundheitsdienstes der JVA Solothurn
  • Teilnahme am Vernetzungsanlass des BJ zu Kindern und Angehörigen von Inhaftierten
  • Netzwerktreffen für Angehörige
  • Treffen mit der Beratungsstelle RIF (Rechtsberatung Im Freiheitsentzug, tätig in der JVA Pöschwies)
  • Besuch der JVA Thorberg
  • Teilnahme am Podium der WOZ «Weggesperrt»
  • Zahlreiche Interviews und Hintergrundgespräche mit Medienschaffenden und Personen aus der Politik
  • Mitwirkung an Masterarbeiten durch Interviews mit der Beratungsstelle

Diese Aktivitäten tragen dazu bei, die Lebensrealitäten inhaftierter Menschen sichtbarer zu machen und strukturelle Probleme im Straf- und Massnahmenvollzug ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Ausblick 2025: Es braucht eine Offensive

Es ist eine grosse Frage, wie es mit der Beratungsstelle weitergeht. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation mussten fürs Jahr 2025 bereits die Stelle der zweiten Beratungsperson um 10% reduzieren. Dies hat dazu geführt, dass die Beratungsstelle anfangs 2025 mehrere Monate unter dem vertretbaren Minimum an personellen Ressourcen funktioniert hat und wir im Mai 2025 wegen akuter Überlastung die Bremse ziehen mussten. Aktuell laufen einerseits die Überlegungen, wie wir den Auftrag der Beratungsstelle an die vorhandenen Ressourcen anpassen können. Andererseits sind wir bereits seit einigen Monaten daran, ein Argumentarium und eine Strategie zu erarbeiten, wie die Beratungsstelle nachhaltig finanziert werden könnte. Dabei ist wohl besser die Rede von einer notwendigen Offensive und grundsätzlichem Neudenken, um die Beratungsstelle am Leben zu erhalten.

Wir sind auf jede Unterstützung angewiesen! Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie es, die Beratungen weiterzuführen und damit Menschen in Freiheitsentzug und ihren Angehörigen weiterhin eine wichtige Stütze zu sein. Denn unser Angebot ist nach wie vor schweizweit die einzige unabhängige Beratungsstelle für Inhaftierte.