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Kilian

Kilian: Tod in Polizeizelle

19.12.2022

Am 26. Dezember 2018 stirbt Kilian alleine in einer Berner Polizeizelle. Zuvor hatte der zuständige Notfallarzt entschieden, dass Kilian trotz starker Intoxikation hafterstehungsfähig ist und nicht in ein Spital transferiert werden muss.

Nach einer Goaparty an Heiligabend 2018 greift die Polizei Kilian in einem Berner Nachtclub auf und nimmt ihn mit auf die Wache. Laut der Polizei, weil der 20-jährige Drogen auf sich trägt, was jedoch nie nachgewiesen wird. Sicher ist: Kilian hatte an diesem Abend Partydrogen konsumiert und war laut Zeugenaussagen zeitweise nur schwer ansprechbar.

Auf der Polizeiwache lässt die Polizei den Zustand Kilians von einem Notfallarzt einschätzen. Der Arzt kommt zum Schluss, dass Kilian hafterstehungsfähig sei und trotz starker Intoxikation in einer normalen Zelle untergebracht werden könne. In der darauffolgenden Nacht verstirbt Kilian alleine in seiner Zelle.

Ende Dezember 2018 leitet die Berner Staatsanwaltschaft eine Untersuchung ein. Die Obduktion Kilians ergibt, dass sein Tod nicht selbst herbeigeführt wurde und höchst wahrscheinlich infolge des Drogenkonsums eintrat; die genaue Todesursache bleibt aber unklar. Damit Angehörige und Freund*innen überhaupt an Informationen kommen und Akteneinsicht haben, ist eine Privatklage nötig, die am 3. Januar 2019 eingereicht wird. So kann die «Gruppe Kilian», in der sich Angehörige und Freund*innen organisieren, auch Einfluss auf die ersten Einvernahmen nehmen und unter anderem die Befragung einer Zeugin verlangen. Bei der Vernehmung durch die Sonderstaatsanwaltschaft erklärt der verantwortliche Notfallarzt, dass er Festgenommene «nicht leichtsinnig ins Spital schicke». Er mache sich auch finanzielle Überlegungen, solche medizinischen Betreuungen von Festgenommenen kosteten viel.

Im März 2019 entscheidet die Staatanwaltschaft, keine Anklage gegen den zuständigen Arzt zu erheben und das Verfahren einzustellen. Dieser Entscheid wird vom Obergericht des Kantons Bern zweieinhalb Monate später gestützt. Die Gruppe Kilian akzeptiert den gerichtlichen Beschluss nicht. Sie will wissen, ob der Tod von Kilian hätte verhindert werden können – mit einer Einweisung ins Spital. Mit Hilfe des Anwalts Philip Stolkin reicht sie Beschwerde beim Bundesgericht ein und stellt gleichzeitig ein Revisionsgesuch beim Obergericht. Letzteres wird am 3. Juni 2021 abgelehnt.

Am 13. Juni 2022 kommt auch das Bundesgericht in seinem Urteil zum Schluss, dass das Verfahren zu Recht eingestellt worden sei. Das Gericht weist sämtliche Rügen ab. Die Gruppe Kilian zieht das Verfahren nun mit Unterstützung von Anwalt Philip Stolkin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiter: am 20. November 2022 wurde die Beschwerde eingereicht. Wenige Wochen später steht bereits fest, dass der EGMR auf die Beschwerde eingetreten ist. Bis zum Urteil wird es aber noch einige Zeit dauern. Mit dem Gang an den EGMR soll geklärt werden, ob die Berner und Schweizer Justiz im Todesfall von Kilian eine unabhängige Untersuchung hätte einleiten müssen. Laut Stolkin hat es keine effektive Strafuntersuchung gegeben. Die Strafverfolgungsbehörden müssten grundsätzlich aber immer Anklage erheben, wenn keine klare Straflosigkeit vorliege.

Die fehlende Untersuchung des Todesfalles von Kilian erinnert an den Fall S.F. vs. Schweiz. Herr F. hatte sich 2014 in Polizeigewahrsam das Leben genommen, nachdem er trotz suizidaler Äusserungen 40 Minuten ohne Überwachung in einer Einzelzelle auf einer Polizeiwache alleine gelassen worden war. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Schweiz daraufhin, weil sich die Staatsanwaltschaft weigerte, eine Untersuchung durchzuführen – und dies vom Bundesgericht gestützt wurde. Ausserdem stellte der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Leben fest, weil die beteiligten Polizist*innen es unterlassen hatten, effektive Massnahmen zum Schutz des Lebens von Herrn F. zu ergreifen.

Wenn verletzliche Gefangene in staatlicher Obhut sterben, braucht es sehr gute Gründe, um ein Verfahren einzustellen. Dass der Kanton Bern sich trotz der offensichtlichen Parallelen zum Fall S.F. auch bei Kilian weigert, Anklage zu erheben, zeugt von einem mangelnden Bewusstsein für die Menschenrechte und einer Dysfunktionalität innerhalb der Justiz bezüglich der Untersuchung von staatlichem Fehlverhalten.

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Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug

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