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R.: Ein Autist in Fürsorgerischer Unterbingung

31.10.2024

R. ist 20 Jahre alt, als er wegen Depressionen und akuter Suizidalität freiwillig in die eine psychiatrische Klinik für eine Krisenintervention eintritt. Er kommt auf die Akutstation und muss sich ein 4-Bett-Zimmer mit anderen Patienten mit ganz unterschiedlichen Krankheitsbildern teilen. Auf der Station hat es viele Patient*innen, die deutlich älter sind als R. Er hat zu diesem Zeitpunkt noch keine ASS-Diagnose, aber der Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist in den Akten festgehalten. Für R. ist der Umgang mit den anderen Menschen in seinem Zimmer und auf der Station sehr anstrengend. Die ersten Tage bedeuten für ihn eine komplette Überforderung. Er schläft viel, meistens mit der Decke über dem Kopf. In der Akutstation der Klinik gibt es keine Tagesstruktur, es gibt keine Beschäftigungsangebote und R. hat nichts zu tun. Therapiegespräche gibt es nur rund einmal pro Woche, in denen aber der Grund, warum er in der Psychiatrie ist - seine Depression – nicht thematisiert wird. Das Schwierigste in dieser Zeit ist, dass R. nun direkt mit der eigenen Psyche und seinen drehenden Gedanken konfrontiert ist. Er muss zwei Monate in dieser Situation auf der Akutstation hat ausharren, bevor er auf die Therapiestation kommt. Weil nichts läuft und aufgrund gewisser Situationen, die R. als nicht korrekt empfindet, ist er oft angespannt und wütend.

Als zum Zeitpunkt, als R. sich bereits auf der Therapiestation befindet, seine Zimmernachbarin sich das Leben nimmt, verschlimmert sich Situation so drastisch, dass R. angegurtet und mit zwei verschiedenen, hoch dosiert angewandten Medikamenten sediert in der Isolation landet. Der leitende Arzt Z. erlaubt ihm nach der Isolation nicht, auf die Therapiestation zurückzukehren, weil angeblich alle Patent*innen und Angestellten von R. eingeschüchtert seien. R. führt mit Hilfe eines Mitpatienten eine Umfrage auf der Therapiestation durch, weil er diese Begründung dem leitenden Arzt Z. nicht glaubt. Diese Umfrage wird von Z. unterbunden. Z. droht R. mit einer Anzeige, wenn er nochmals eine solche Aktion mache. Für R. aber ist das Schlimmste, dass er nun wieder auf der Akutstation in einem Mehrbettzimmer und ohne Beschäftigung bleiben muss. Dieser Entscheid löst bei R. Mordgedanken gegenüber Z. aus, die genauso zu kreisen beginnen, wie seine Suizidgedanken. Er äussert diese Tatsache mehrfach gegenüber dem Personal, weil er Hilfe will – er möchte diese Gedanken loswerden. Vom Personal wird er aber zunehmend einfach ignoriert. Eines Tages wird R. ohne Ankündigung innerhalb von 30 Minuten entlassen. Nur zwei Tage vorher war er offiziell als selbst- und fremdgefährdend eingestuft worden. Eine neben dem leitenden Arzt Z. und einem Polizisten zusätzlich anwesende Drittperson attestiert ihm genügende Stabilität für die Entlassung. Er wird ohne Ausweis und Geld auf die Strasse gesetzt, weil ihm seine persönlichen Sachen zuvor aus seinem Zimmer gestohlen worden sind. Zusätzlich erhält R. ein Hausverbot. Auf dem Heimweg überlegt sich R. verschiedene Optionen, wie er sich das Leben nehmen kann, z.B. als er bei an Bahngeleisen vorbeiläuft.

Zu Hause ist er während zwei Wochen in schlechtem Zustand, bis seine Mutter für ihn mit einigen Anstrengungen einen Platz in einer anderen Psychiatrie organisieren kann. Dort ist Vieles anders und er kann schnell stabilisiert werden. Heute geht es ihm besser. Trotzdem habe R. Schaden genommen und sei kognitiv nicht mehr auf demselben Level wie vorher, meint seine Mutter Er sei traurig, dass er eine Invalidenrente beziehen müsse und nicht arbeiten könne. Positiv sei aber, dass seit Jahren kein weiterer Psychiatrieaufenthalt nötig war.

humanrights.ch setzt sich in der Folge #11 des Podcasts «Artikel Sieben» ausführlich mit dem Fall von R. auseinander. In der Schweiz darf eine Person gegen ihren Willen in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn sie an einer «psychischen Störung, geistiger Behinderung oder schwerer Verwahrlosung» leidet und sofern die notwendige Behandlung oder Betreuung nicht anders gewährleistet werden kann. In diesen Fällen sprechen wir von Fürsorgerischer Unterbringung (FU). Dabei muss zwingend eine ernsthafte Selbstgefährdung vorliegen und unter bestimmten Voraussetzungen kann auch eine Fremdgefährdung berücksichtigt werden. Ein FU kann aber auch nachträglich bei freiwilligem Eintritt in eine Psychiatrie verhängt werden, wie dies bei R. der Fall war. Nach dem Vorfall mit der Isolation stellt R. fest, dass er in der Zwischenzeit unter FU gestellt worden ist.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der FU, sowie für mögliche damit verbundene medizinische Zwangsbehandlungen wie Zwangsmedikation oder Fixationen sind im Zivilgesetzbuch ab Artikel 426 geregelt – und entsprechend in der Schweiz zulässig. Im Podcast sind wir der Frage nachgegangen, warum solche Zwangsmassnahmen generell für Menschen mit Behinderungen nicht zulässig sein sollten und weshalb diese speziell für Menschen im Autismus-Spektrum nicht zielführend sind. Es wird erläutert, wie die Schweiz seit bald zwanzig Jahren für ihren Umgang mit Kindern mit Behinderungen und speziell Autist*innen vom Kinderrechtsausschuss der UNO gerügt wird.

kontakt

Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug

livia.schmid@humanrights.ch
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