12.07.2023
Im Frühling 2022 hat das Bundesgericht mehrere Urteile mit Bezug auf fehlendes Einverständnis in den Geschlechtsverkehr gefällt. Die Urteile machen Lücken im gültigen Sexualstrafrecht sichtbar und widersprechen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Zudem befeuerten sie die Debatte um die Revision des Sexualstrafrechts.
Im März 2022 hielt das Bundesgericht fest, dass im aktuell gültigen Sexualstrafrecht die fehlende Zustimmung zu einer sexuellen Handlung nicht ausreicht, um den Tatbestand der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung zu rechtfertigen. Das Strafgericht des Kantons Genf verurteilte im September 2019 einen Mann wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Er legte beim Kantonsgericht Genf Berufung ein und wurde von diesen Vorwürfen freigesprochen. Die betroffene Frau erhob beim Bundesgericht Beschwerde gegen das Urteil. Diese wurde im März 2022 abgewiesen. Das Bundesgericht begründet die Ablehnung der Beschwerde mit dem Fehlen des Nötigungsmerkmals, welches als Tatbestandsmerkmal der Artikel 189 und 190 des Strafgesetzes erforderlich ist. Das Nötigungsmerkmal beinhaltet das fehlende Einverständnis einer Person zur sexuellen Handlung, was die tatbegehende Person weiss oder in Kauf nimmt, indem sie sich durch Missbrauch der Situation oder dem Einsatz von bestimmten Mitteln darüber hinwegsetzt.
Laut dem Bundesgericht ist im vorliegenden Fall das Nötigungsmerkmal nicht eindeutig ersichtlich, da die Aussagen beider Beteiligten durchschnittlich glaubhaft seien und Differenzen in Bezug auf den Tathergang und das Einverständnis der Beschwerdeführerin bestanden hätten. Darum sei es nach dem Legalitätsprinzip «Keine Strafe ohne Gesetz» nicht möglich, den Mann zu bestrafen, da vom Tatbestand des Nötigungsmerkmals nur durch eine Änderung der Gesetzgebung abgesehen werden könne.
Im Mai 2022 entschied das Bundesgericht dann in zwei Fällen (aus Zürich und Basel), dass das heimliche und nicht einvernehmliche Entfernen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs – sogenanntes Stealthing – nicht unter den Tatbestand der «Schändung» (Art. 191 StGB) fällt. Als Begründung führt das Bundesgericht an, dass das Opfer das für die Schändung erforderliche Tatbestandsmerkmal der Widerstandsunfähigkeit nicht erfüllt. Zwar hat das Opfer keine Gelegenheit sich zu wehren, wenn das Kondom ohne ihr Wissen entfernt wird, sie wäre körperlich aber dazu in der Lage, würde sie es bemerken.
Die Völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz wurden vom Bundesgericht im März und im Mai 2022 als nicht relevant für die Auslegung des Schweizerischen Sexualstrafrechts eingestuft. Laut der Europäischen Menschenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten zu Bestrafung und Verfolgung von nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen verpflichtet (Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK). Dies wurde auch schon in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt (Urteil 39272/98). Im Mai 2022 bezeichnete das Bundesgericht den Tatbestand des Stealthing als allfällige «Strafbarkeitslücke», welche nicht durch Auslegung des Völkerrechts geschlossen werden dürfe. In der Schweiz dürfen nur Taten bestraft werden, die auch explizit nach Schweizer Recht unter Strafe stehen. Auch die von der Schweiz ratifizierte Istanbul Konvention (Art. 36 Abs. 2) verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, vorsätzliche Sexualakte ohne freiwilliges Einverständnis unter Strafe zu stellen. Im Fall vom März 2022 spielt es laut Bundesgerichtsurteil keine Rolle, ob die Artikel zur sexuellen Nötigung (Art. 189 STGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB) des Schweizerischen Strafgesetzbuches den Anforderungen der Istanbul Konvention genügen. Für die sich darauf berufende Person würden sich aus der Istanbul Konvention keine subjektiven Rechte ergeben. Sie muss ihren Fall nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen. Im Urteil vom Mai 2022 schreibt das Bundesgericht, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen hauptsächlich an die Gesetzgebung adressiert seien.
Auch das Parlament befasste sich mit der Thematik und nahm die Revision des Schweizer Sexualstrafrechts in Angriff. Besonders um die Definition der Einvernehmlichkeit der sexuellen Handlung gab es eine politische Debatte. Die Schweizer Sektion von Amnesty International, Operation Libero und zahlreiche weitere Organisationen und Fachstellen setzten sich mit einer breiten Kampagne für die Zustimmungslösung – «Nur Ja heisst Ja» – im Sexualstrafrecht ein. Demnach soll die ausdrückliche Zustimmung aller Beteiligten für eine legale sexuelle Handlung erforderlich sein. Nach dem Urteil zum Stealthing sprachen sich erneut mehrere National- und Ständerätinnen dafür aus. Der Ständerat befürwortete jedoch eine Widerspruchslösung – «Nein heisst Nein». Damit wären nur sexuelle Handlungen strafbar, die von einer Person explizit abgelehnt und danach gegen ihren Willen durchgeführt wurden.
Nach zahlreichen Debatten und einem Hin und Her zwischen den beiden Räten in der Frühlings- und in der Sommersession 2023 konnte sich das Parlament schliesslich auf einen Kompromiss einigen und die Revision verabschieden. Es blieb bei der «Nein heisst Nein»-Lösung, der Straftatbestand der Vergewaltigung wurde aber neu definiert. Darin wird anerkennt, dass Opfer von sexualisierter Gewalt zuweilen in eine Art Schockzustand (sog. «Freezing») geraten und dann ihre Ablehnung nicht mehr zum Ausdruck bringen können. Dies sollen Gerichte künftig berücksichtigen. Eine implizite oder nonverbale Ablehnung soll also auch reichen, um den Vergewaltigungstatbestand zu erfüllen. Diese Änderungen werden von einer breiten Bewegung aus feministischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen als «enorme Verbesserungen gegenüber der aktuellen Situation» bezeichnet. Deswegen unterstützen sie die Revision trotz dem ursprünglich angestrebten, nun nicht enthaltenen Grundsatz von «Nur Ja heisst Ja», wie sie in einer gemeinsamen Erklärung schreiben. Auch humanrights.ch hat diese mitunterzeichnet.
Die Gerichtsverfahren haben in dieser Thematik nicht die gewünschte Änderung der Rechtspraxis erzielt. Diese musste – wie auch das Bundesgericht schrieb – durch die Gesetzgebung und damit durch die Politik vorgenommen werden. Durch Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit – auch rund um die Urteile – ist es der Zivilgesellschaft gelungen, Politiker*innen für die Problematik zu sensibilisieren. In diesem Fallbeispiel wird also deutlich, dass Prozesse in gewissen Fällen ohne das zivilgesellschaftliche Engagement und Öffentlichkeitsarbeit keine Wirkung entfalten. Ausserdem kann es ein strategisches Element sein, dass sich eine Kampagne auf mehrere Prozesse bezieht.
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Marianne Aeberhard
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