23.11.2023
In der Schweiz verbleiben die allermeisten Verwahrten nach dem Verbüssen ihrer Strafe im normalen Strafvollzug, obwohl sie das Recht auf eine andere Unterbringung hätten. Um diese Praxis zu ändern, führte ein Anwalt den Fall von A. bis vor Bundesgericht.
Im Herbst 1989 beging A. eine schreckliche Tat: er tötete eine ältere Frau und verging sich danach sexuell an ihr. Für dieses Vergehen und weitere Delikte wurde er im September 1991 vom Bezirksgericht Brugg zu 16 Jahren Haft verurteilt. Nachdem A. seine Strafe abgesessen hatte, wurde er 2005 nachträglich verwahrt, da er gemäss den psychiatrischen Gutachten als gefährlich galt.
An seinem Gefängnisalltag änderte sich mit der Verwahrung nichts, er blieb in der gleichen kantonalen Strafanstalt wie bisher. Dies obwohl sich der Zweck der Verwahrung gemäss Gesetz von jenem des Strafvollzugs unterscheidet: während Verurteilte bei letzterem aufgrund ihrer Tat eine Strafe verbüssen und in Haft ein fremdbestimmtes Leben mit vielen Einschränkungen führen müssen, bleiben sie bei einer Verwahrung einzig zum Schutz der Gesellschaft eingesperrt. Demzufolge sollten Verwahrte in einer gesicherten Einrichtung untergebracht werden, wo sie ein selbstbestimmteres Leben führen können.
Damit dies für A. möglich wurde, reichte sein Anwalt Stephan Bernard im Juli 2021 ein Gesuch beim Amt für Justizvollzug des Kantons Aargau ein und forderte bessere Bedingungen des Verwahrungsvollzuges, u.a. eine bessere Unterbringung von A. ausserhalb des normalen Strafvollzuges. Daraufhin wurde A. im Dezember 2021 nach ein paar Tagen Probewohnen in die Wohngruppe «Verwahrungsvollzug in Kleingruppen» in der Justizvollzug Solothurn verlegt. Dort wohnt er seither mit fünf weiteren Verwahrten in einer Haus-WG zusammen; sie dürfen selber kochen und waschen und können ein Telefon frei benutzen. Die sechs Männer arbeiten in den Werkstätten des Gefängnisses, wie die anderen Gefangenen.
Trotz der Verlegung von A. hielten sein Anwalt und er am eingereichten Gesuch fest, da dieses weiter Anträge um Gewährung von Ausgängen und Urlauben und einer resozialisierungs- und freiheitsorientierten Therapie enthielt. Zudem verlangten sie die Feststellung, dass der vorherige, 16 Jahre dauernde Verwahrungsvollzug von A. gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen habe.
2009 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil festgehalten, dass es für eine verwahrte Person einer doppelten Strafe gleichkommt, wenn sich der Verwahrungsvollzug nicht wesentlich vom Strafvollzug unterscheidet. Denn die betroffene Person verbleibt nach dem Verbüssen der Strafe für die Verwahrung im gleichen Haftsetting. Dies sei EMRK-widrig.
Im Fall von A. wiesen das Amt für Justizvollzug sowie alle weiteren kantonalen Instanzen die eingereichten Anträge und Beschwerden ab. Anwalt Bernard zog das Verfahren weiter und reichte im November 2022 Beschwerde beim Bundesgericht ein. Dieses entschied im Juli 2023, dass zwar die neue Unterbringung von A. nicht gegen die EMRK verstosse, allenfalls jedoch die frühere Unterbringung im Strafvollzug – die Vorinstanzen müssten dies nun prüfen.
Für Stephan Bernard ist der Entscheid ein Erfolg, weil das Bundesgericht damit die Menschenrechtskonformität des Verwahrungsvollzuges grundsätzlich in Frage stellt und eine eingehende Prüfung davon verlangt. Das Ziel des Rechtsanwaltes ist es, über den Einzelfall von A. hinaus eine strukturelle Veränderung zu bewirken: Verwahrte in der Schweiz sollen nicht mehr unter den gleichen Haftbedingungen wie Strafgefangene leben müssen. Um dies zu erreichen, ist Bernard auch dazu bereit, den Fall von A. an den EGMR weiterzuziehen. Dies allerdings nur, wenn die kantonalen Instanzen im Aargau, welche den Vollzug von A. nun neu beurteilen müssen, nicht zum gleichen Schluss kommen wie er.
Die Anlaufstelle für strategische Prozessführung unterstützt diesen Prozess.
Der strategische Fall von A. und der Verwahrungsvollzug in der Schweiz sind auch Thema der dritten Folge unseres Podcasts «Artikel Sieben»:
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