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Verwaltungsgericht anerkennt Anspruch auf Nachteilsausgleich für KV-Lernenden mit Legasthenie

13.02.2025

Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen hat mit Entscheid vom 3. Dezember 2024 festgestellt, dass einem kaufmännischen Lernenden mit diagnostizierter Legasthenie ein Anspruch auf einen Zeitzuschlag von 15 % bei schriftlichen Prüfungen zusteht. Das Gericht korrigierte damit die vorangegangenen Entscheide des Amts für Berufsbildung sowie der Verwaltungsrekurskommission, welche das Gesuch um Nachteilsausgleich abgelehnt hatten. Dieser Entscheid stellt einen bedeutenden Schritt für die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem dar.

Der Beschwerdeführer E. wurde im Jahr 2015 mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) diagnostiziert und erhielt bis zum Abschluss der Mittelstufe gezielte schulische Fördermassnahmen. Eine erneute fachpsychologische Abklärung im Jahr 2019 bestätigte die Diagnose und wies insbesondere auf eine erhebliche Verlangsamung der Textverarbeitung hin. Vor diesem Hintergrund wurde ihm während der Oberstufe ein Prüfungszeitzuschlag gewährt.
Mit Aufnahme der kaufmännischen Berufslehre im August 2023 stellte E. beim Amt für Berufsbildung des Kantons St. Gallen (ABB) ein Gesuch um Gewährung eines Zeitzuschlags bei Prüfungen sowie die Zulassung von auditiven Hilfsmitteln. Das ABB wies dieses Gesuch mit Verfügung vom 21. November 2023 ab, da Lesen und Schreiben als essenzielle Grundfertigkeiten des Berufs Kaufmann EFZ angesehen würden und eine Anpassung der Prüfungsanforderungen daher nicht zulässig sei. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde von der Verwaltungsrekurskommission mit Entscheid vom 6. Juni 2024 ebenfalls abgewiesen.

E. gelangte daraufhin mit Beschwerde vom 26. Juni 2024 an das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen und beantragte die Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie die Gewährung eines Zeitzuschlags von mindestens 15 % bei schriftlichen Prüfungen. Er führte aus, dass der Zeitzuschlag keine Erleichterung der Prüfungsanforderungen darstelle, sondern ausschliesslich eine Kompensation seiner behinderungsbedingten Beeinträchtigung bewirke. Zudem verwies er auf den erfolgreichen Einsatz digitaler Hilfsmittel im Berufsalltag.

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass die Verweigerung eines Zeitzuschlags eine unzulässige Benachteiligung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV) sowie Art. 2 Abs. 5 lit. b des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) darstellt. Das Gericht gelangte zum Schluss, dass die beantragte Anpassung erforderlich und verhältnismässig sei, um eine chancengleiche Prüfungssituation herzustellen, ohne die berufsrelevanten Anforderungen zu beeinträchtigen.

Mit Entscheid vom 3. Dezember 2024 hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und sprach dem Beschwerdeführer einen Zeitzuschlag von 15 % bei schriftlichen Prüfungen zu.

Legasthenie als anerkannte Beeinträchtigung

Die Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) ist eine spezifische Lernstörung, die sich durch erhebliche Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben manifestiert. Sie ist häufig genetisch bedingt und beeinflusst neurophysiologische Prozesse der auditiven und visuellen Informationsverarbeitung. Gemäss den Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird sie als klar definiertes Störungsbild anerkannt. Im ICD-11 wird sie als schulische Entwicklungsstörung klassifiziert, während das DSM-5 sie als spezifische Lernstörung einordnet.

Legasthenie geht nicht mit einer Intelligenzminderung einher, sondern betrifft spezifische kognitive Prozesse. Weltweit sind etwa 5 bis 6 % der Kinder von einer spezifischen Lernstörung betroffen, wobei Jungen zwei- bis dreimal häufiger diagnostiziert werden als Mädchen.

Verfassungsrechtlicher Schutz vor Diskriminierung

Gemäss Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweiz (BV) darf niemand aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung diskriminiert werden. Es ist ausdrücklich verboten, Benachteiligungen vorzunehmen, die nicht sachlich begründet sind. Eine Diskriminierung kann direkt oder indirekt erfolgen.

Art. 8 Abs. 4 BV verpflichtet den Gesetzgeber, Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu ergreifen. Dieser Auftrag wurde insbesondere durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) umgesetzt, dessen Ziel es ist, Benachteiligungen zu verhindern und abzubauen (Art. 1 Abs. 1 BehiG). Menschen mit Behinderungen sind Personen, deren körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigungen ihre alltäglichen Handlungen erschweren oder unmöglich machen, soziale Kontakte zu pflegen oder eine Erwerbstätigkeit auszuüben (Art. 2 Abs. 1 BehiG). Eine Benachteiligung liegt vor, wenn diese Personen ohne sachliche Rechtfertigung schlechter behandelt werden als nicht behinderte Menschen oder wenn eine unterschiedliche Behandlung notwendig wäre, um Gleichstellung zu erreichen (Art. 2 Abs. 2 BehiG).

Nachteilsausgleich als Mittel zur Chancengleichheit

Der Nachteilsausgleich spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Bildungsgerechtigkeit und der Vermeidung von Benachteiligungen. Im Bildungsbereich bedeutet dies, dass Prüfungsbedingungen so angepasst werden, dass Menschen mit Behinderungen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten unter fairen Voraussetzungen unter Beweis stellen können.

Gemäss Art. 2 Abs. 5 BehiG müssen Prüfungen und Bildungsangebote so gestaltet sein, dass sie die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen. Dabei ist sicherzustellen, dass die Prüfungsleistung die tatsächlichen Fähigkeiten der Kandidatinnen und Kandidaten widerspiegelt. Auch Personen mit Behinderungen haben Anspruch auf angepasste Prüfungsbedingungen, um eine faire Beurteilung ihrer Kompetenzen zu gewährleisten. Dies kann beispielsweise durch eine verlängerte Bearbeitungszeit geschehen, falls die Behinderung die Arbeitsgeschwindigkeit beeinflusst.

Gleichzeitig dürfen solche Anpassungen die grundlegende Zielsetzung der Prüfung nicht beeinträchtigen – insbesondere dann nicht, wenn die getesteten Fähigkeiten essenziell für die Ausbildung oder den angestrebten Beruf sind.

Im vorliegenden Fall führt der Beschwerdeführer eine Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) an, die seine Prüfungsleistungen beeinträchtigt. Der beantragte Zeitzuschlag von 15 % ist geeignet, die behinderungsbedingten Verzögerungen zu kompensieren und eine Chancengleichheit gegenüber anderen Prüfungsteilnehmern zu gewährleisten. Der Zeitzuschlag verändert nicht den Inhalt der Prüfungen, sondern passt lediglich die Prüfungsbedingungen an die individuellen Bedürfnisse des Beschwerdeführers an. Dadurch wird gewährleistet, dass die Prüfungsleistungen die tatsächlichen fachlichen Fähigkeiten der betroffenen Person widerspiegeln. Die grundlegenden Prüfungsanforderungen bleiben unverändert.

Folgen des Urteils

Das Verwaltungsgericht hob sowohl den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission als auch die ursprüngliche Verfügung des Amts für Berufsbildung auf. Dem Beschwerdeführer wurde der beantragte Zeitzuschlag von 15 % gewährt. Darüber hinaus sprach das Gericht ihm die Rückerstattung der Verfahrenskosten in Höhe von CHF 1'800 zu, da Verfahren nach Art. 7 und 8 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) grundsätzlich kostenfrei sind.
Dieses Urteil ist ein Präzedenzfall für die Anwendung des Nachteilsausgleiches in der Berufsbildung und stärkt die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Es zeigt, dass das Recht auf chancengleiche Bildung auch für Lernende gilt und dass Prüfungsanpassungen eine notwendige Massnahme sind, um Diskriminierung zu verhindern.

Quellen

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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