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B. Suizid in Polizeigewahrsam - mangelnde Abklärung eines Haftschocks

26.11.2024

Alex Berger* nahm sich kurz nach seiner Verhaftung in Polizeigewahrsam das Leben. Eine Untersuchung zeigte, dass er ohne ausreichende medizinische Abklärung und Überwachung untergebracht worden war. In einem strategischen Prozess soll nun geklärt werden, ob die bestehenden Richtlinien zum Umgang mit Haftschocks menschenrechtlichen Standards entsprechen und ob eine Staatshaftung vorliegt.

Am 22. Mai 2023 wurde Alex Berger* morgens an seinem Arbeitsplatz von mehreren Beamt*innen verhaftet – vor den Augen seiner Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Als Grund für die Verhaftung wurde der Verdacht der versuchten Anstiftung zum Mord genannt. Berger wurde auf der Bieler Polizeiwache mehrere Stunden lang verhört und danach am späteren Nachmittag in eine Einzelzelle des Bieler Regionalgefängnis gebracht. In der Einvernahme gab er auf Nachfrage an, keinen ärztlichen oder psychologischen Beistand zu benötigen. Er verweigerte die Aussage auf die konkrete Frage, ob er Suizidabsichten hege.

Am nächsten Morgen wurde Berger tot in seiner Zelle aufgefunden, er hatte sich mit seinen Schuhbändeln stranguliert. Seine volljährigen Kinder und seine Mutter fragten sich, ob der Suizid nicht hätte verhindert werden können. Um dies zu klären, reichten sie eine Strafanzeige ein. Daraufhin eröffnete die Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben des Kantons Bern am 21. August 2023 eine Strafuntersuchung gegen unbekannt wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. In der Untersuchung der Staatsanwaltschaft zeigte sich, dass dieser Tatbestand nicht erfüllt sei. Auch wurden kein Fehlverhalten und keine Verstösse gegen interne Richtlinien von dem die Festnahme anordnenden Staatsanwalt sowie von den an der Verhaftung beteiligten Polizist*innen und Gefängnismitarbeitenden festgestellt. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren im Frühling 2024 ein. Bergers Angehörige akzeptierten dies, verlangten jedoch eine Erklärung.
 
Diese Erklärung erfolgte in der Einstellungsverfügung. Darin wurden zwar die einzelnen involvierten Beamt*innen entlastet. Die Staatsanwaltschaft hielt aber auch fest, dass das Bieler Regionalgefängnis hätte erkennen können, dass Berger gewisse Voraussetzungen für ein bestehendes Suizidrisiko erfüllte. Denn gemäss der Untersuchung könnte es sein, dass Berger einen sog. Haftschock erlitten hatte. Dieser kommt besonders bei Personen vor, die – wie auch Berger – das erste Mal im Leben in U-Haft genommen werden. Sie werden auf einen Schlag aus ihrem Alltag und gewohnten Umfeld gerissen und realisieren, dass sie jegliche Autonomie und Handlungsfreiheit verloren haben. Dazu kommt die Scham über die Haft vor der Familie und dem Umfeld. Gemäss dem aktuellen Stand der Wissenschaft können Personen unter Haftschock suizidal reagieren – und das Suizidrisiko ist höher, wenn die Verhaftung vom Umfeld beobachtet wurde, wie das auch bei Berger der Fall war.

Die Staatsanwaltschaft schrieb, dass der Suizid von Berger durch andere Unterbringungsmodalitäten möglicherweise hätte verhindert werden können. So hätten gelegentliche Sichtkontrollen und psychiatrische Abklärungen vorgenommen werden können. Berger hätte in einer Zweierzelle untergebracht und ihm die Schuhbändel weggenommen werden können. Gemäss Staatsanwaltschaft war Berger also ohne ausreichende medizinische Abklärung und Überwachung – wie zu seinem Selbstschutz notwendig – untergebracht worden. Besonders bemerkenswert und – wie auch das Bieler Tagblatt schrieb – über den Einzelfall von Berger hinaus bedeutend sind folgende Ausführungen der Staatsanwältin in der Einstellungsverfügung: Sie merkte an, dass bei den aktuell geltenden Richtlinien für das Gefängnispersonal ein Suizidfall wie jener von Berger jederzeit wieder passieren könne. Denn die Mitarbeitenden der Strafverfolgungs- und Justizvollzugsbehörden seien kaum auf Haftschocks sensibilisiert und es gäbe keine konkreten Richtlinien zum Umgang damit.

Diese Tatsache kritisiert der Anwalt von Bergers Angehörigen – er sieht den Staat eindeutig in Verantwortung. Denn wenn der Staat Menschen die Freiheit entzieht und in Gefängnissen unterbringt, ist er für den Schutz ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit verantwortlich (sog. staatliche Fürsorgepflicht). Nach Ansicht des Anwaltes hätte der Kanton Bern seine Richtlinien und Praktiken längst diversen völkerrechtlichen Grundlagen anpassen müssen. Zu diesen zählen neben dem Recht auf Leben (Art. 10 BV, Art. 2 EMRK, Art. 6 UNO-Pakt II) u.a. auch Vorgaben des UNO-Menschenrechtsausschuss, Urteile des Bundesgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie die European Prison Rules.

Der Anwalt möchte – auf Wunsch von Bergers Angehörigen – die Verantwortung des Staates in diesem Fall sowie das Vorgehen der Behörden bei Verhaftungen grundsätzlich rechtlich überprüfen lassen. Aus diesem Grund wird der Anwalt demnächst ein Staatshaftungsgesuch einreichen. Diese wird dann in einem separaten Staatshaftungsverfahren geklärt. Bergers Suizid reiht sich in eine Reihe anderer ähnlicher Todesfälle in Schweizer Haftanstalten ein. So hat sich im September 2022 eine Frau in Polizeigewahrsam in der Stadt Fribourg ebenfalls mit den Schuhbändeln stranguliert. Auch in diesem Fall läuft eine Staatshaftungsklage. humanrights.ch fordert deshalb eine bessere Prüfung der Hafterstehungsfähigkeit – eine unabhängige und professionelle Untersuchung des physischen und psychischen Zustands jeder betroffenen Person vor Haftantritt, um medizinische Notfälle, Todesfälle und Suizide zu verhindern.


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Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug

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