04.03.2025
Der EGMR entscheidet in einem Leiturteil, dass die Schweiz mit ihrer Praxis der absoluten Bettelverbote gegen die EMRK verstösst. Obwohl das Urteil in einigen Kantonen zu einer Gesetzesänderung führt (die jedoch weiterhin ein grossflächiges Bettelverbot bedeuten), gelten in anderen jedoch immer noch allgemeine Bettelverbote – welche gegen die Menschenrechte verstossen.

Mit ihrer Praxis der absoluten Bettelverbote verstösst die Schweiz gegen die EMRK. Das entschied der EGMR im Verfahren «Lacatus gegen die Schweiz». Durch die Bestrafung einer bettelnden Roma wurde ihr Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMKR verletzt. Die auferlegte Busse – beziehungsweise die Ersatzfreiheitstrafe wegen Nichtzahlung – beurteilt der Gerichtshof als unverhältnismässig. Während in einigen Kantonen dieses Urteil zwar zu einer Gesetzesänderung führt, welche aber weiterhin faktisch ein grossflächiges Bettel-verbot bedeuten, ist in anderen nach wie vor ein allgemeines Bettelverbot in Kraft – obwohl ein solches gegen das Urteil des EGMR verstösst.
Bettelverbote, wie sie in der Schweiz Anwendung finden, verletzen nach wie vor die Menschenrechte. So können diese dazu führen, dass alle Menschen, die als Teil eines zu diesem Zweck organisierten Netzwerks betteln, bestraft werden – auch wenn sie dazu gezwungen werden. Dies ist ein klarer Verstoss gegen das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels. Da die bettelnden Menschen in der Regel mittellos sind, ist eine Geldstrafe oft nur ein Zwischenschritt zum Freiheitsentzug. Dies ist angesichts der besonderen Bedürftigkeit und der Verletzlichkeit dieser Menschen nicht zulässig und führt zur Kriminalisierung von passiv bettelnden Personen. Weiter sind nach wie vor sind Beschwerden gegen kantonale Bettelverbote beim EGMR hängig. Diese würden gleich gegen mehrere Artikel der EMRK verstossen, unter anderem das Recht auf persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit oder auch der Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Es bleibt offen, wie der EGMR nach seinem ersten Leiturteil aus dem Jahr 2021 im Falle der aktuellen Beschwerden entscheidet.
1. EGMR Urteil Lacatus gegen die Schweiz (19.1.2021)
Im Urteil vom 19. Januar 2021 verurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz, da diese durch die Bestrafung einer bettelnden Roma deren Recht auf Privatleben gemäss Art. 8 EMRK verletzt hat. Die Schweiz hatte der Roma eine Busse von 500 Schweizer Franken auferlegt, beziehungsweise deren Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe von fünf Tagen. Der Gerichtshof beurteilt diese Strafe als unverhältnismässig.
Der Gerichtshof entscheidet, dass eine Person durch ein generelles Bettelverbot daran gehindert wird, mit anderen Personen in Kontakt zu treten, um Hilfe zu erhalten und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Kann eine Person nicht über ausreichende Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verfügen, ist ihre Menschenwürde beeinträchtigt. Das Recht, andere Personen um Hilfe zu bitten, ist ein Bestandteil des Kerngehalts von Art. 8 EMRK, welcher das Recht auf ein Privatleben betrifft.
2. Basel-städtisches Kantonsparlament verabschiedet neues Bettelverbot (23.6.2021)
Der Kanton Basel-Stadt verabschiedet im Juni 2021 ein neues Gesetz, welches betteln wiederum verbieten soll, nachdem das frühere Bettelverbot 2019 abgeschafft wurde. Das neue Gesetz tritt am 1. September 2021 in Kraft. Dadurch wird das Betteln in Basel-Stadt stark eingeschränkt: Es wird mit einer Busse von 50 Schweizer Franken bestraft, wenn es an neuralgischen und besonders sensiblen Orten stattfindet (insbesondere bei Ein- und Ausgängen sowie im Umkreis von fünf Metern von Bahnhöfen und Geschäften, Banken, Poststellen, Restaurants, kulturellen Einrichtungen, öffentlichen Gebäuden und in der Umgebung von Haltestellen des öffentlichen Verkehrs sowie auf Spielplätzen). Dagegen erheben die Demokratischen Jurist*innen Basel beim Bundesgericht Beschwerde und verlangen eine abstrakte Normenkontrolle.
3. Der Grosse Rat des Kanton Genf nimmt eine überarbeitete Version des Bettelgesetzes an (11.12.2021)
Nach dem EGMR-Urteil wird das Genfer Bettelgesetz geändert. Nach dem neuen Gesetz ist es in bestimmten Zonen nicht mehr möglich zu betteln. Die verbotenen Bereiche sind unter anderem Orte wie Einkaufszonen, Bahnhöfe oder in der Umgebung von Geschäften. Zudem ist das Betteln durch Minderjährige, Betteln in Begleitung von Minderjährigen, organisiertes sowie aggressives Betteln untersagt. Ob das neue Bettelgesetz den Bedingungen des Europäischen Gerichtshof standhält, ist unklar. Das überarbeitete Gesetz tritt im Februar 2022 in Kraft.
4. Kanton Waadt lehnt die Aufhebung des allgemeinen Bettelverbots ab (November 2022)
Auch im Kanton Waadt verstösst das zu diesem Zeitpunkt bestehende Bettelverbot gegen das Urteil des EGMR. Eine Aufhebung des allgemeinen Bettelverbots wird allerdings im November 2022 vom Grossen Rat des Kantons abgelehnt. Ein daraufhin ausgearbeiteter Gesetzesentwurf, welcher das Problem beheben soll, wird in der Vernehmlassung vielfach kritisiert.
5. Bundesgerichtsurteil hebt das Bettelverbot in Basel-Stadt teilweise auf (13.3.2023)
Im März 2023 heisst das Bundesgericht eine Beschwerde der DJS-Basel gegen das Bettelverbot im Kanton Basel-Stadt teilweise gut. Das Verbot des Bettelns in öffentlichen Parks wird aufgehoben, da es unverhältnismässig sei. Eine Geldstrafe für passives Betteln darf nur dann verhängt werden, wenn zuvor mildere Massnahmen erfolglos geblieben sind. Das Bundesgericht bleibt jedoch bei seiner Rechtsprechung, wonach Betteln weder durch die Meinungsfreiheit noch durch die Wirtschaftsfreiheit geschützt ist. Das Bettelverbot des Kantons Basel-Stadt ist somit verfassungskonform, ausser in öffentlichen Parks.
Weiter erachtet das Bundesgericht eine Geldstrafe für eine Person, die rein passiv bettelt (dies bedeutet nicht organisiertes, aufdringliches oder aggressives Betteln) nur dann als zulässig, wenn zuvor weniger einschneidende Massnahmen erfolglos geblieben sind, um das Bettelverbot durchzusetzen. Eine Geldstrafe für bettelnde Personen, welche oft mittellos sind, führt oftmals zu einer Umwandlung in eine Freiheitsstrafe. Aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit bettelnder Personen sei dies nicht zulässig.
6. Ablehnung generelles Bettelverbot Kanton Bern (13.6.2023)
Durch den Bundesgerichtsentscheid betreffend Basler Bettelverbot fühlt sich auch der Kanton Bern in seiner Praxis bestätigt, die der basel-städtischen gleicht und bereits seit dem Jahr 2008 in Kraft ist. Bettelnde Personen, welche sich aufdringlich oder aggressiv verhalten, werden kontrolliert und weggewiesen. Handelt es sich um EU-Bürger*innen ohne Wohnsitz in der Schweiz, müssen sie das Land verlassen. Ein generelles Bettelverbot im Kanton Bern wird daher am 13. Juni 2023 vom Grossen Rat des Kanton Bern abgelehnt. Der Umgang mit Bettelnden liegt hier nach wie vor in der Kompetenz der Gemeinden.
7. Anpassung des Bettelgesetzes Kanton Waadt (6.7.2023)
Wie der Kanton Genf passt auch der Kanton Waadt sein Bettelgesetz an, um den Urteilen des EGMR und Bundesgericht nachzukommen. Dabei ist betteln erlaubt, solange es die Wahlfreiheit der Passant*innen nicht beeinträchtigt. Aufdringliches oder aggressives Betteln wird bestraft, zudem besteht ein Bettelverbot an gewissen Orten wie beispielsweise in Warteschlangen auf Märkten, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an den Haltestellen sowie in «unmittelbarer Nähe» dieser Orte. Das Gesetz listet die vom Verbot betroffenen Orte abschliessend auf. Faktisch handelt es sich um eine Verschärfung, denn es läuft damit auf ein fast generelles Verbot des Bettelns hinaus.
8. Interpretation des BGer-Urteils durch Basel-Stadt (September 2023)
Der Kanton Basel-Stadt legt das den Bundesgerichtsentscheid so aus, dass die Personen aus EU oder EFTA-Staaten, die nur zum Betteln in die Schweiz kommen, die Einreisebedingungen nicht erfüllen. Somit können die bettelnden Personen nach Basler Auslegung aus der Schweiz weggewiesen werden. Dadurch müssen Sie die Schweiz verlassen, und der Kanton hätte die Möglichkeit, den Aufenthalt als rechtswidrig einzustufen.
Eine solche Auslegung des Bundesgerichtsurteils ist aber umstritten. Nach dieser Auslegung dürfte man nicht mehr in die Schweiz reisen oder sich hier aufhalten, wenn man von Armut betroffen ist. Diese Frage hat das Bundesgericht nicht abschliessend behandelt.
9. St. Gallen hebt allgemeines Bettelverbot auf (22.5.2024)
Die Stadt St. Gallen hebt im Mai 2024 das allgemeine Bettelverbot auf. Ähnlich wie im Kanton Basel-Stadt ist Betteln heute mit Einschränkungen erlaubt. Organisiertes Betteln ist weiterhin verboten. Das Bettelverbot umfasst unter anderem das Betteln in aufdringlicher oder aggressiver Weise, innerhalb von fünf Metern um Ein- und Ausgänge von Bahnhöfen oder Ladengeschäften. Die bettelnde Person ist beim Betteln in verbotenen Gebieten zuerst zu verwarnen oder wegzuweisen, bevor sie strafrechtlich verfolgt wird.
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