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Kriterien zur Auswahl eines internationalen Beschwerdemechanismus

14.11.2023

Ist eine Person der Ansicht, ihre Menschenrechte seien auch nach Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht vor einer Verletzung geschützt worden, kann sie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte («EGMR») eine Beschwerde gegen die Schweiz einreichen. Das weiss nicht zuletzt aufgrund der sogenannten Selbstbestimmungsinitiative, die 2018 vom Stimmvolk abgelehnt wurde, eine breite Öffentlichkeit in der Schweiz. Dass neben dem EGMR allerdings noch weitere internationale Mechanismen zur Überprüfung der Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen durch die Schweiz bestehen, ist selbst unter Rechtsanwält*innen und Nichtregierungsorganisationen wenig bekannt.

So kann man mit einer menschenrechtlich begründeten individuellen Mitteilung entsprechend den geltend gemachten Verletzungen auch an fünf Ausschüsse der Vereinten Nationen («UN») gelangen. Die Schweiz anerkennt die Zuständigkeit von folgenden UN-Ausschüssen:

Des Weiteren gibt es im Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen auch sogenannte Sonderverfahren («special procedures») unter dem UN Menschenrechtsrat («UN Human Rights Council»). Dabei handelt es sich um unabhängige Menschenrechtsexpert*innen, die sich als Sonderberichterstatter*innen («special rapporteur»), Unabhängige Expert*innen («independent expert») oder Arbeitsgruppen («working group») thematisch oder länderspezifisch mit dem Schutz von Menschenrechten auseinandersetzen. Individuen, Gruppen, Organisationen der Zivilgesellschaft, zwischenstaatliche Organisationen oder nationale Menschenrechtsinstitutionen können diesen Sonderverfahren Informationen zu vergangenen, bestehenden oder drohenden Menschenrechtsverletzungen sowie Bedenken hinsichtlich der Übereinstimmung legislativer Instrumente, «Policies» oder anderer Handlungen mit dem Menschenrecht zukommen lassen. Aufgrund dieser Informationen können die Sonderverfahren dem betreffenden Staat eine Mitteilung («communication») zukommen lassen. Damit kann der betreffende Staat beispielsweise dazu aufgefordert werden, eine Menschenrechtsverletzung zu verhindern, zu stoppen oder zu ahnden.

Ein bedachter Entscheid für oder gegen einen bestimmten internationalen Mechanismus zur Überprüfung der Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen ist besonders bei strategisch geführten Prozessen wichtig. Als strategisch werden vorliegend Gerichtsprozesse bezeichnet, die gezielt zur Schliessung einer konkreten Lücke im Menschenrechtsschutz und zur Thematisierung einer strukturellen Menschenrechtsverletzung eingesetzt werden und damit über die Interessen der daran beteiligten Parteien hinausgehen.

Eine generelle Empfehlung für die Wahl eines geeigneten internationalen Beschwerdemechanismus für einen bestimmten Sachverhalt oder ein angestrebtes Ziel ist nicht möglich. Allerdings sollten verschiedene Erwägungen in eine bedachte Entscheidung miteinbezogen werden. Einige dieser Erwägungen werden im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz erläutert. Wichtig ist zu betonen, dass je nach Sachverhalt oder dem bisherigen Verfahrensverlauf weitere oder andere Erwägungen miteinbezogen werden müssen. Ebenso ist es möglich, dass Versäumnisse in früheren Verfahrensstadien – beispielsweise das Fehlen eines medizinischen Gutachtens oder fehlende Rügen einzelner Menschenrechtsverletzungen – sich auf die notwendigen Erwägungen auswirken und die Wahl einschränken. Schliesslich ist zu bemerken, dass eine offene Kommunikation mit dem mutmasslichen Opfer von Menschenrechtsverletzungen über die Chancen und Risiken eines internationalen Verfahrens und insbesondere auch dessen Anforderungen und Dauer von grösster Wichtigkeit sind.

Verschiedenen Kriterien, die bei der Entscheidung für oder gegen einen bestimmten internationalen Mechanismus zur Überprüfung der Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz zu berücksichtigen sind:

Verletzte Menschenrechte Welche Menschenrechte wurden verletzt? In welchen Abkommen sind diese festgehalten? Wurden die Menschenrechtsverletzungen zumindest der Sache nach («at least in substance») bereits innerstaatlich gerügt?
Formelle Hürden Die formellen Hürden sind vor dem EGMR höher als vor den UN-Ausschüssen. Die UN-Ausschüsse stellen wiederum höhere formelle Anforderungen als die «Special Procedures», also die Mitteilung bspw. an eine*n UN-Sonderberichterstatter*in.
Zulässigkeitsvoraussetzungen Welche Zulässigkeitsvoraussetzungen bestehen vor den jeweiligen internationalen Beschwerdemechanismen? Erfüllt ein Verfahren diese?
Fristen insbesondere Bestehen Fristen zur Einreichung einer Beschwerde bzw. einer individuellen Mitteilung und wurden diese bereits verpasst?
Verfahrensdauer Wie lange dauert ein Verfahren vor einem bestimmten internationalen Beschwerdemechanismus? Grundsätzlich dauern Verfahren vor dem EGMR länger als vor UN-Ausschüssen. Zur Verfahrensdauer lässt sich jedoch keine pauschale Aussage machen.
Prozesskosten / unentgeltliche Rechtspflege Welche Verfahrenskosten fallen an und wie können diese gedeckt werden? Nur vor dem EGMR kann Prozesskostenhilfe beantragt werden.
Rechtsprechung Wie hat ein bestimmter internationaler Beschwerdemechanismus bei ähnlich gelagerten Sachverhalten entschieden? Grundsätzlich sind die UN-Ausschüsse im Bereich Asyl/Migration derzeit progressiver als der EGMR. Auch unter den UN-Ausschüssen gibt es Unterschiede bei der Beurteilung ähnlich gelagerter Sachverhalte.
Rechtliche Wirkung von Entscheiden und vorhandene Rechtsbehelfe Welche Abhilfe oder Wirkung erhofft man sich vom Entscheid eines bestimmten internationalen Beschwerdemechanismus?

Die praktischen Erläuterungen in unseren Guides «How to EGMR», «How to UN Committee» und «How to UN Special Rapporteurs» sollen den Entscheid für oder gegen einen bestimmten internationalen Beschwerdemechanismus erleichtern.

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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